Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_385.001
ein Princip, nach welchem für die specifischen Wirkungen des Dichters pdi_385.002
zunächst in dem Umkreis, dem Reichthum und der Energie pdi_385.003
seiner Erfahrungen der Grund aufgesucht werden muss. Hier pdi_385.004
trennt sich von dem objectiven der subjective, ja pathologische pdi_385.005
Dichter.

pdi_385.006

Die aus diesen Elementen bestehenden Bilder des pdi_385.007
Wirklichen und die in der Wirklichkeit enthaltenen pdi_385.008
Verbindungen solcher Bilder wandelt das Schaffen des pdi_385.009
Dichters frei, uneingeschränkt von den Bedingungen pdi_385.010
der Wirklichkeit, um; dieses Schaffen ist daher dem pdi_385.011
Traum und den ihm benachbarten Zuständen sowie dem pdi_385.012
Wahnsinn verwandt.

pdi_385.013

Ich bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen, pdi_385.014
dem Irren und dem Dichter oder Künstler gemeinsam ist, als eine pdi_385.015
freie Gestaltung der Bilder, uneingeschränkt von den Bedingungen pdi_385.016
der Wirklichkeit. Die hier bestehende Verwandtschaft pdi_385.017
des dichterischen Vorgangs mit den Zuständen, die von der pdi_385.018
Norm des wachen Lebens abweichen, betrifft gerade das Wesenhafte pdi_385.019
des poetischen Phantasievorgangs. Die wissenschaftliche pdi_385.020
Erfindung oder der Entwurf des practischen Genies haben ihr pdi_385.021
Mass an der Wirklichkeit, welcher Denken und Handeln sich pdi_385.022
anpassen, um zu begreifen oder zu wirken. Dagegen sind die pdi_385.023
oben bezeichneten Zustände nicht von der Wirklichkeit in der pdi_385.024
Ausbildung der Vorstellungen eingeschränkt.

pdi_385.025

Diese Verwandtschaft hat Goethe im Tasso ergreifend dargestellt. pdi_385.026
Sie erscheint auch an den beiden grössten subjectiven pdi_385.027
Dichtern des vorigen Jahrhunderts und des unseren, an Rousseau pdi_385.028
und Byron. Liest man die Geschichte Rousseaus von jenem pdi_385.029
9. April 1756 ab, an welchem er die Einsiedelei im Parke von pdi_385.030
La Chevrette bezog und "anfing zu leben", bis zu seinem Tod, pdi_385.031
der erst seinen Träumen, seinen Enttäuschungen, ja seinem pdi_385.032
Verfolgungswahn ein Ende machte: so ist es unmöglich, seine pdi_385.033
Wahnideen von seinen Schicksalen zu trennen. Die dämonische pdi_385.034
Reizbarkeit Byrons hat alle Vorgänge seines Lebens phantastisch pdi_385.035
vergrössert, und der Vorwurf von Irrsinn ist zwischen ihm und pdi_385.036
seiner Frau in ihrem Zerwürfniss hin- und hergeschleudert worden.

pdi_385.001
ein Princip, nach welchem für die specifischen Wirkungen des Dichters pdi_385.002
zunächst in dem Umkreis, dem Reichthum und der Energie pdi_385.003
seiner Erfahrungen der Grund aufgesucht werden muss. Hier pdi_385.004
trennt sich von dem objectiven der subjective, ja pathologische pdi_385.005
Dichter.

pdi_385.006

  Die aus diesen Elementen bestehenden Bilder des pdi_385.007
Wirklichen und die in der Wirklichkeit enthaltenen pdi_385.008
Verbindungen solcher Bilder wandelt das Schaffen des pdi_385.009
Dichters frei, uneingeschränkt von den Bedingungen pdi_385.010
der Wirklichkeit, um; dieses Schaffen ist daher dem pdi_385.011
Traum und den ihm benachbarten Zuständen sowie dem pdi_385.012
Wahnsinn verwandt.

pdi_385.013

  Ich bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen, pdi_385.014
dem Irren und dem Dichter oder Künstler gemeinsam ist, als eine pdi_385.015
freie Gestaltung der Bilder, uneingeschränkt von den Bedingungen pdi_385.016
der Wirklichkeit. Die hier bestehende Verwandtschaft pdi_385.017
des dichterischen Vorgangs mit den Zuständen, die von der pdi_385.018
Norm des wachen Lebens abweichen, betrifft gerade das Wesenhafte pdi_385.019
des poetischen Phantasievorgangs. Die wissenschaftliche pdi_385.020
Erfindung oder der Entwurf des practischen Genies haben ihr pdi_385.021
Mass an der Wirklichkeit, welcher Denken und Handeln sich pdi_385.022
anpassen, um zu begreifen oder zu wirken. Dagegen sind die pdi_385.023
oben bezeichneten Zustände nicht von der Wirklichkeit in der pdi_385.024
Ausbildung der Vorstellungen eingeschränkt.

pdi_385.025

  Diese Verwandtschaft hat Goethe im Tasso ergreifend dargestellt. pdi_385.026
Sie erscheint auch an den beiden grössten subjectiven pdi_385.027
Dichtern des vorigen Jahrhunderts und des unseren, an Rousseau pdi_385.028
und Byron. Liest man die Geschichte Rousseaus von jenem pdi_385.029
9. April 1756 ab, an welchem er die Einsiedelei im Parke von pdi_385.030
La Chevrette bezog und „anfing zu leben“, bis zu seinem Tod, pdi_385.031
der erst seinen Träumen, seinen Enttäuschungen, ja seinem pdi_385.032
Verfolgungswahn ein Ende machte: so ist es unmöglich, seine pdi_385.033
Wahnideen von seinen Schicksalen zu trennen. Die dämonische pdi_385.034
Reizbarkeit Byrons hat alle Vorgänge seines Lebens phantastisch pdi_385.035
vergrössert, und der Vorwurf von Irrsinn ist zwischen ihm und pdi_385.036
seiner Frau in ihrem Zerwürfniss hin- und hergeschleudert worden.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0087" n="385"/><lb n="pdi_385.001"/>
ein Princip, nach welchem für die specifischen Wirkungen des Dichters <lb n="pdi_385.002"/>
zunächst in dem Umkreis, dem Reichthum und der Energie <lb n="pdi_385.003"/>
seiner Erfahrungen der Grund aufgesucht werden muss. Hier <lb n="pdi_385.004"/>
trennt sich von dem objectiven der subjective, ja pathologische <lb n="pdi_385.005"/>
Dichter.</p>
          <lb n="pdi_385.006"/>
          <p> <hi rendition="#et">  Die aus diesen Elementen bestehenden Bilder des <lb n="pdi_385.007"/>
Wirklichen und die in der Wirklichkeit enthaltenen <lb n="pdi_385.008"/>
Verbindungen solcher Bilder wandelt das Schaffen des <lb n="pdi_385.009"/>
Dichters frei, uneingeschränkt von den Bedingungen <lb n="pdi_385.010"/>
der Wirklichkeit, um; dieses Schaffen ist daher dem <lb n="pdi_385.011"/>
Traum und den ihm benachbarten Zuständen sowie dem <lb n="pdi_385.012"/>
Wahnsinn verwandt.</hi> </p>
          <lb n="pdi_385.013"/>
          <p>  Ich bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen, <lb n="pdi_385.014"/>
dem Irren und dem Dichter oder Künstler gemeinsam ist, als eine <lb n="pdi_385.015"/> <hi rendition="#g">freie Gestaltung</hi> der <hi rendition="#g">Bilder,</hi> uneingeschränkt von den Bedingungen <lb n="pdi_385.016"/>
der Wirklichkeit. Die hier bestehende Verwandtschaft <lb n="pdi_385.017"/>
des dichterischen Vorgangs mit den Zuständen, die von der <lb n="pdi_385.018"/>
Norm des wachen Lebens abweichen, betrifft gerade das Wesenhafte <lb n="pdi_385.019"/>
des poetischen Phantasievorgangs. Die wissenschaftliche <lb n="pdi_385.020"/>
Erfindung oder der Entwurf des practischen Genies haben ihr <lb n="pdi_385.021"/>
Mass an der Wirklichkeit, welcher Denken und Handeln sich <lb n="pdi_385.022"/>
anpassen, um zu begreifen oder zu wirken. Dagegen sind die <lb n="pdi_385.023"/>
oben bezeichneten Zustände nicht von der Wirklichkeit in der <lb n="pdi_385.024"/>
Ausbildung der Vorstellungen eingeschränkt.</p>
          <lb n="pdi_385.025"/>
          <p>  Diese Verwandtschaft hat Goethe im Tasso ergreifend dargestellt. <lb n="pdi_385.026"/>
Sie erscheint auch an den beiden grössten subjectiven <lb n="pdi_385.027"/>
Dichtern des vorigen Jahrhunderts und des unseren, an Rousseau <lb n="pdi_385.028"/>
und Byron. Liest man die Geschichte Rousseaus von jenem <lb n="pdi_385.029"/>
9. April 1756 ab, an welchem er die Einsiedelei im Parke von <lb n="pdi_385.030"/>
La Chevrette bezog und &#x201E;anfing zu leben&#x201C;, bis zu seinem Tod, <lb n="pdi_385.031"/>
der erst seinen Träumen, seinen Enttäuschungen, ja seinem <lb n="pdi_385.032"/>
Verfolgungswahn ein Ende machte: so ist es unmöglich, seine <lb n="pdi_385.033"/>
Wahnideen von seinen Schicksalen zu trennen. Die dämonische <lb n="pdi_385.034"/>
Reizbarkeit Byrons hat alle Vorgänge seines Lebens phantastisch <lb n="pdi_385.035"/>
vergrössert, und der Vorwurf von Irrsinn ist zwischen ihm und <lb n="pdi_385.036"/>
seiner Frau in ihrem Zerwürfniss hin- und hergeschleudert worden.
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[385/0087] pdi_385.001 ein Princip, nach welchem für die specifischen Wirkungen des Dichters pdi_385.002 zunächst in dem Umkreis, dem Reichthum und der Energie pdi_385.003 seiner Erfahrungen der Grund aufgesucht werden muss. Hier pdi_385.004 trennt sich von dem objectiven der subjective, ja pathologische pdi_385.005 Dichter. pdi_385.006   Die aus diesen Elementen bestehenden Bilder des pdi_385.007 Wirklichen und die in der Wirklichkeit enthaltenen pdi_385.008 Verbindungen solcher Bilder wandelt das Schaffen des pdi_385.009 Dichters frei, uneingeschränkt von den Bedingungen pdi_385.010 der Wirklichkeit, um; dieses Schaffen ist daher dem pdi_385.011 Traum und den ihm benachbarten Zuständen sowie dem pdi_385.012 Wahnsinn verwandt. pdi_385.013   Ich bezeichne das, was dem Träumenden, dem Hypnotischen, pdi_385.014 dem Irren und dem Dichter oder Künstler gemeinsam ist, als eine pdi_385.015 freie Gestaltung der Bilder, uneingeschränkt von den Bedingungen pdi_385.016 der Wirklichkeit. Die hier bestehende Verwandtschaft pdi_385.017 des dichterischen Vorgangs mit den Zuständen, die von der pdi_385.018 Norm des wachen Lebens abweichen, betrifft gerade das Wesenhafte pdi_385.019 des poetischen Phantasievorgangs. Die wissenschaftliche pdi_385.020 Erfindung oder der Entwurf des practischen Genies haben ihr pdi_385.021 Mass an der Wirklichkeit, welcher Denken und Handeln sich pdi_385.022 anpassen, um zu begreifen oder zu wirken. Dagegen sind die pdi_385.023 oben bezeichneten Zustände nicht von der Wirklichkeit in der pdi_385.024 Ausbildung der Vorstellungen eingeschränkt. pdi_385.025   Diese Verwandtschaft hat Goethe im Tasso ergreifend dargestellt. pdi_385.026 Sie erscheint auch an den beiden grössten subjectiven pdi_385.027 Dichtern des vorigen Jahrhunderts und des unseren, an Rousseau pdi_385.028 und Byron. Liest man die Geschichte Rousseaus von jenem pdi_385.029 9. April 1756 ab, an welchem er die Einsiedelei im Parke von pdi_385.030 La Chevrette bezog und „anfing zu leben“, bis zu seinem Tod, pdi_385.031 der erst seinen Träumen, seinen Enttäuschungen, ja seinem pdi_385.032 Verfolgungswahn ein Ende machte: so ist es unmöglich, seine pdi_385.033 Wahnideen von seinen Schicksalen zu trennen. Die dämonische pdi_385.034 Reizbarkeit Byrons hat alle Vorgänge seines Lebens phantastisch pdi_385.035 vergrössert, und der Vorwurf von Irrsinn ist zwischen ihm und pdi_385.036 seiner Frau in ihrem Zerwürfniss hin- und hergeschleudert worden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/87
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 385. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/87>, abgerufen am 24.11.2024.