Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482.

Bild:
<< vorherige Seite

pdi_307.001
der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches pdi_307.002
Gefühl als den allein zurückbleibenden Maassstab der pdi_307.003
Werthbestimmung. Das Publicum herrscht. Die Massen, die in pdi_307.004
colossalen Ausstellungsgebäuden, in Theatern aller Grössen und pdi_307.005
Arten, wie in Leihbibliotheken sich drängen, machen und vernichten pdi_307.006
den Namen der Künstler.

pdi_307.007

Diese Anarchie des Geschmacks bezeichnet stets Zeiten, in pdi_307.008
denen eine neue Art, die Wirklichkeit zu fühlen, die bestehenden pdi_307.009
Formen und Regeln zerbrochen hat und nun neue Formen der pdi_307.010
Kunst sich ausbilden wollen; sie darf aber niemals andauern, pdi_307.011
und es ist eine der lebendigen Aufgaben der heutigen Philosophie, pdi_307.012
Kunst- und Literaturgeschichte, das gesunde Verhältniss zwischen pdi_307.013
dem ästhetischen Denken und der Kunst wiederherzustellen.

pdi_307.014

Das Bedürfniss nach Wahrhaftigkeit und nach packenden pdi_307.015
Wirkungen aller Art treibt heute den Künstler auf einem Wege pdi_307.016
voran, dessen Ziel ihm noch unbekannt ist. Diesem Streben pdi_307.017
opfert er die saubere Abgrenzung der Formen und die reinliche pdi_307.018
Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit. pdi_307.019
Hierbei fühlt er sich im Einklang mit einer veränderten Gesellschaft. pdi_307.020
Der Kampf um Existenz und Wirkung in dieser ist pdi_307.021
rücksichtsloser geworden und verlangt die Ausbeutung der pdi_307.022
stärksten Effecte. Die Massen haben Stimme und Geltung erlangt pdi_307.023
und strömen mit grosser Leichtigkeit an Centralpunkten pdi_307.024
zusammen, an welchen sie nun die Befriedigung ihres Verlangens pdi_307.025
nach packenden Wirkungen, nach Erschütterungen des pdi_307.026
Herzens fordern. Der wissenschaftliche Untersuchungsgeist tritt pdi_307.027
jedem Object gegenüber in Thätigkeit, dringt in jede Art von pdi_307.028
geistiger Operation ein und bewirkt ein Bedürfniss, durch jede pdi_307.029
Art von Hülle hindurch die Wirklichkeit wahrhaftig zu erblicken. pdi_307.030
Naturen, die mit dem zahlen, was sie sind, waren unser Ideal pdi_307.031
im vorigen Jahrhundert; eine repräsentative, die zuständliche pdi_307.032
Schönheit veredelnde Kunst musste hiervon der Ausdruck sein; pdi_307.033
jetzt liegt unser Ideal nicht in der Form, sondern in der Kraft, pdi_307.034
welche in Formen und Bewegungen zu uns redet. So wird heute pdi_307.035
die Kunst demokratisch, wie Alles um uns, und der Durst nach pdi_307.036
Realität, nach wissenschaftlich fester Wahrheit erfüllt auch sie.

pdi_307.001
der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches pdi_307.002
Gefühl als den allein zurückbleibenden Maassstab der pdi_307.003
Werthbestimmung. Das Publicum herrscht. Die Massen, die in pdi_307.004
colossalen Ausstellungsgebäuden, in Theatern aller Grössen und pdi_307.005
Arten, wie in Leihbibliotheken sich drängen, machen und vernichten pdi_307.006
den Namen der Künstler.

pdi_307.007

  Diese Anarchie des Geschmacks bezeichnet stets Zeiten, in pdi_307.008
denen eine neue Art, die Wirklichkeit zu fühlen, die bestehenden pdi_307.009
Formen und Regeln zerbrochen hat und nun neue Formen der pdi_307.010
Kunst sich ausbilden wollen; sie darf aber niemals andauern, pdi_307.011
und es ist eine der lebendigen Aufgaben der heutigen Philosophie, pdi_307.012
Kunst- und Literaturgeschichte, das gesunde Verhältniss zwischen pdi_307.013
dem ästhetischen Denken und der Kunst wiederherzustellen.

pdi_307.014

  Das Bedürfniss nach Wahrhaftigkeit und nach packenden pdi_307.015
Wirkungen aller Art treibt heute den Künstler auf einem Wege pdi_307.016
voran, dessen Ziel ihm noch unbekannt ist. Diesem Streben pdi_307.017
opfert er die saubere Abgrenzung der Formen und die reinliche pdi_307.018
Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit. pdi_307.019
Hierbei fühlt er sich im Einklang mit einer veränderten Gesellschaft. pdi_307.020
Der Kampf um Existenz und Wirkung in dieser ist pdi_307.021
rücksichtsloser geworden und verlangt die Ausbeutung der pdi_307.022
stärksten Effecte. Die Massen haben Stimme und Geltung erlangt pdi_307.023
und strömen mit grosser Leichtigkeit an Centralpunkten pdi_307.024
zusammen, an welchen sie nun die Befriedigung ihres Verlangens pdi_307.025
nach packenden Wirkungen, nach Erschütterungen des pdi_307.026
Herzens fordern. Der wissenschaftliche Untersuchungsgeist tritt pdi_307.027
jedem Object gegenüber in Thätigkeit, dringt in jede Art von pdi_307.028
geistiger Operation ein und bewirkt ein Bedürfniss, durch jede pdi_307.029
Art von Hülle hindurch die Wirklichkeit wahrhaftig zu erblicken. pdi_307.030
Naturen, die mit dem zahlen, was sie sind, waren unser Ideal pdi_307.031
im vorigen Jahrhundert; eine repräsentative, die zuständliche pdi_307.032
Schönheit veredelnde Kunst musste hiervon der Ausdruck sein; pdi_307.033
jetzt liegt unser Ideal nicht in der Form, sondern in der Kraft, pdi_307.034
welche in Formen und Bewegungen zu uns redet. So wird heute pdi_307.035
die Kunst demokratisch, wie Alles um uns, und der Durst nach pdi_307.036
Realität, nach wissenschaftlich fester Wahrheit erfüllt auch sie.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0009" n="307"/><lb n="pdi_307.001"/>
der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches <lb n="pdi_307.002"/>
Gefühl als den allein zurückbleibenden Maassstab der <lb n="pdi_307.003"/>
Werthbestimmung. Das Publicum herrscht. Die Massen, die in <lb n="pdi_307.004"/>
colossalen Ausstellungsgebäuden, in Theatern aller Grössen und <lb n="pdi_307.005"/>
Arten, wie in Leihbibliotheken sich drängen, machen und vernichten <lb n="pdi_307.006"/>
den Namen der Künstler.</p>
        <lb n="pdi_307.007"/>
        <p>  Diese Anarchie des Geschmacks bezeichnet stets Zeiten, in <lb n="pdi_307.008"/>
denen eine neue Art, die Wirklichkeit zu fühlen, die bestehenden <lb n="pdi_307.009"/>
Formen und Regeln zerbrochen hat und nun neue Formen der <lb n="pdi_307.010"/>
Kunst sich ausbilden wollen; sie darf aber niemals andauern, <lb n="pdi_307.011"/>
und es ist eine der lebendigen Aufgaben der heutigen Philosophie, <lb n="pdi_307.012"/>
Kunst- und Literaturgeschichte, das gesunde Verhältniss zwischen <lb n="pdi_307.013"/>
dem ästhetischen Denken und der Kunst wiederherzustellen.</p>
        <lb n="pdi_307.014"/>
        <p>  Das Bedürfniss nach Wahrhaftigkeit und nach packenden <lb n="pdi_307.015"/>
Wirkungen aller Art treibt heute den Künstler auf einem Wege <lb n="pdi_307.016"/>
voran, dessen Ziel ihm noch unbekannt ist. Diesem Streben <lb n="pdi_307.017"/>
opfert er die saubere Abgrenzung der Formen und die reinliche <lb n="pdi_307.018"/>
Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit. <lb n="pdi_307.019"/>
Hierbei fühlt er sich im Einklang mit einer veränderten Gesellschaft. <lb n="pdi_307.020"/>
Der Kampf um Existenz und Wirkung in dieser ist <lb n="pdi_307.021"/>
rücksichtsloser geworden und verlangt die Ausbeutung der <lb n="pdi_307.022"/>
stärksten Effecte. Die Massen haben Stimme und Geltung erlangt <lb n="pdi_307.023"/>
und strömen mit grosser Leichtigkeit an Centralpunkten <lb n="pdi_307.024"/>
zusammen, an welchen sie nun die Befriedigung ihres Verlangens <lb n="pdi_307.025"/>
nach packenden Wirkungen, nach Erschütterungen des <lb n="pdi_307.026"/>
Herzens fordern. Der wissenschaftliche Untersuchungsgeist tritt <lb n="pdi_307.027"/>
jedem Object gegenüber in Thätigkeit, dringt in jede Art von <lb n="pdi_307.028"/>
geistiger Operation ein und bewirkt ein Bedürfniss, durch jede <lb n="pdi_307.029"/>
Art von Hülle hindurch die Wirklichkeit wahrhaftig zu erblicken. <lb n="pdi_307.030"/>
Naturen, die mit dem zahlen, was sie sind, waren unser Ideal <lb n="pdi_307.031"/>
im vorigen Jahrhundert; eine repräsentative, die zuständliche <lb n="pdi_307.032"/>
Schönheit veredelnde Kunst musste hiervon der Ausdruck sein; <lb n="pdi_307.033"/>
jetzt liegt unser Ideal nicht in der Form, sondern in der Kraft, <lb n="pdi_307.034"/>
welche in Formen und Bewegungen zu uns redet. So wird heute <lb n="pdi_307.035"/>
die Kunst demokratisch, wie Alles um uns, und der Durst nach <lb n="pdi_307.036"/>
Realität, nach wissenschaftlich fester Wahrheit erfüllt auch sie.
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[307/0009] pdi_307.001 der Regel verlassen, der Kritiker zurückgeworfen auf sein persönliches pdi_307.002 Gefühl als den allein zurückbleibenden Maassstab der pdi_307.003 Werthbestimmung. Das Publicum herrscht. Die Massen, die in pdi_307.004 colossalen Ausstellungsgebäuden, in Theatern aller Grössen und pdi_307.005 Arten, wie in Leihbibliotheken sich drängen, machen und vernichten pdi_307.006 den Namen der Künstler. pdi_307.007   Diese Anarchie des Geschmacks bezeichnet stets Zeiten, in pdi_307.008 denen eine neue Art, die Wirklichkeit zu fühlen, die bestehenden pdi_307.009 Formen und Regeln zerbrochen hat und nun neue Formen der pdi_307.010 Kunst sich ausbilden wollen; sie darf aber niemals andauern, pdi_307.011 und es ist eine der lebendigen Aufgaben der heutigen Philosophie, pdi_307.012 Kunst- und Literaturgeschichte, das gesunde Verhältniss zwischen pdi_307.013 dem ästhetischen Denken und der Kunst wiederherzustellen. pdi_307.014   Das Bedürfniss nach Wahrhaftigkeit und nach packenden pdi_307.015 Wirkungen aller Art treibt heute den Künstler auf einem Wege pdi_307.016 voran, dessen Ziel ihm noch unbekannt ist. Diesem Streben pdi_307.017 opfert er die saubere Abgrenzung der Formen und die reinliche pdi_307.018 Erhebung des Idealschönen über die gemeine Wirklichkeit. pdi_307.019 Hierbei fühlt er sich im Einklang mit einer veränderten Gesellschaft. pdi_307.020 Der Kampf um Existenz und Wirkung in dieser ist pdi_307.021 rücksichtsloser geworden und verlangt die Ausbeutung der pdi_307.022 stärksten Effecte. Die Massen haben Stimme und Geltung erlangt pdi_307.023 und strömen mit grosser Leichtigkeit an Centralpunkten pdi_307.024 zusammen, an welchen sie nun die Befriedigung ihres Verlangens pdi_307.025 nach packenden Wirkungen, nach Erschütterungen des pdi_307.026 Herzens fordern. Der wissenschaftliche Untersuchungsgeist tritt pdi_307.027 jedem Object gegenüber in Thätigkeit, dringt in jede Art von pdi_307.028 geistiger Operation ein und bewirkt ein Bedürfniss, durch jede pdi_307.029 Art von Hülle hindurch die Wirklichkeit wahrhaftig zu erblicken. pdi_307.030 Naturen, die mit dem zahlen, was sie sind, waren unser Ideal pdi_307.031 im vorigen Jahrhundert; eine repräsentative, die zuständliche pdi_307.032 Schönheit veredelnde Kunst musste hiervon der Ausdruck sein; pdi_307.033 jetzt liegt unser Ideal nicht in der Form, sondern in der Kraft, pdi_307.034 welche in Formen und Bewegungen zu uns redet. So wird heute pdi_307.035 die Kunst demokratisch, wie Alles um uns, und der Durst nach pdi_307.036 Realität, nach wissenschaftlich fester Wahrheit erfüllt auch sie.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination
Sandra Richter: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: nicht übernommen; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: DTABf-getreu; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/9
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Die Einbildungskraft des Dichters: Bausteine für eine Poetik. In: Philosophische Aufsätze. Eduard Zeller zu seinem fünfzigjährigen Doctor-Jubiläum gewidmet. (= Philosphische Aufsätze, 10.) Leipzig, 1887, S. 303–482, hier S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_poetik_1887/9>, abgerufen am 21.11.2024.