Droste-Hülshoff, Annette von: Die Judenbuche. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 51–128. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und schwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann; er betete leise mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt, und die Lichter in den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der Mann sich mühselig auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An mehreren Häusern keuchte er vorüber, dann stand er vor einem still und pochte leise an. Was ist denn das? sagte drinnen eine Frauenstimme; die Thüre klappert, und der Wind geht doch nicht. -- Er pochte stärker. -- Um Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menschen ein, der aus der türkischen Sklaverei kommt! -- Geflüster in der Küche. Geht ins Wirthshaus! antwortete eine andere Stimme; das fünfte Haus von hier. -- Um Gottes Barmherzigkeit willen, laßt mich ein! Ich habe kein Geld. -- Nach einigem Zögern ward die Thüre geöffnet, und ein Mann leuchtete mit der Lampe hinaus. -- Kommt nur herein, sagte er dann, Ihr werdet uns den Hals nicht abschneiden. In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittlern Jahren, eine alte Mutter und fünf Kinder. Alle drängten sich um den Eintretenden her und musterten ihn mit scheuer Neugier. Eine armselige Figur! mit schiefem Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt gebrochen und kraftlos; langes, schneeweißes Haar hing um sein Gesicht, das den verzogenen Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging schwei- ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und schwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann; er betete leise mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt, und die Lichter in den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der Mann sich mühselig auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An mehreren Häusern keuchte er vorüber, dann stand er vor einem still und pochte leise an. Was ist denn das? sagte drinnen eine Frauenstimme; die Thüre klappert, und der Wind geht doch nicht. — Er pochte stärker. — Um Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menschen ein, der aus der türkischen Sklaverei kommt! — Geflüster in der Küche. Geht ins Wirthshaus! antwortete eine andere Stimme; das fünfte Haus von hier. — Um Gottes Barmherzigkeit willen, laßt mich ein! Ich habe kein Geld. — Nach einigem Zögern ward die Thüre geöffnet, und ein Mann leuchtete mit der Lampe hinaus. — Kommt nur herein, sagte er dann, Ihr werdet uns den Hals nicht abschneiden. In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittlern Jahren, eine alte Mutter und fünf Kinder. Alle drängten sich um den Eintretenden her und musterten ihn mit scheuer Neugier. Eine armselige Figur! mit schiefem Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt gebrochen und kraftlos; langes, schneeweißes Haar hing um sein Gesicht, das den verzogenen Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging schwei- <TEI> <text> <body> <div type="chapter"> <p><pb facs="#f0068"/> ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und schwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann; er betete leise mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt, und die Lichter in den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der Mann sich mühselig auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An mehreren Häusern keuchte er vorüber, dann stand er vor einem still und pochte leise an.</p><lb/> <p>Was ist denn das? sagte drinnen eine Frauenstimme; die Thüre klappert, und der Wind geht doch nicht. — Er pochte stärker. — Um Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menschen ein, der aus der türkischen Sklaverei kommt! — Geflüster in der Küche. Geht ins Wirthshaus! antwortete eine andere Stimme; das fünfte Haus von hier. — Um Gottes Barmherzigkeit willen, laßt mich ein! Ich habe kein Geld. —</p><lb/> <p>Nach einigem Zögern ward die Thüre geöffnet, und ein Mann leuchtete mit der Lampe hinaus. — Kommt nur herein, sagte er dann, Ihr werdet uns den Hals nicht abschneiden.</p><lb/> <p>In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittlern Jahren, eine alte Mutter und fünf Kinder. Alle drängten sich um den Eintretenden her und musterten ihn mit scheuer Neugier. Eine armselige Figur! mit schiefem Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt gebrochen und kraftlos; langes, schneeweißes Haar hing um sein Gesicht, das den verzogenen Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging schwei-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0068]
ward nur ein lautes Schluchzen daraus, und schwere, heiße Tropfen fielen in den Schnee. Die zweite Strophe begann; er betete leise mit; dann die dritte und vierte. Das Lied war geendigt, und die Lichter in den Häusern begannen sich zu bewegen. Da richtete der Mann sich mühselig auf und schlich langsam hinab in das Dorf. An mehreren Häusern keuchte er vorüber, dann stand er vor einem still und pochte leise an.
Was ist denn das? sagte drinnen eine Frauenstimme; die Thüre klappert, und der Wind geht doch nicht. — Er pochte stärker. — Um Gotteswillen, laßt einen halberfrornen Menschen ein, der aus der türkischen Sklaverei kommt! — Geflüster in der Küche. Geht ins Wirthshaus! antwortete eine andere Stimme; das fünfte Haus von hier. — Um Gottes Barmherzigkeit willen, laßt mich ein! Ich habe kein Geld. —
Nach einigem Zögern ward die Thüre geöffnet, und ein Mann leuchtete mit der Lampe hinaus. — Kommt nur herein, sagte er dann, Ihr werdet uns den Hals nicht abschneiden.
In der Küche befanden sich außer dem Manne eine Frau in den mittlern Jahren, eine alte Mutter und fünf Kinder. Alle drängten sich um den Eintretenden her und musterten ihn mit scheuer Neugier. Eine armselige Figur! mit schiefem Halse, gekrümmtem Rücken, die ganze Gestalt gebrochen und kraftlos; langes, schneeweißes Haar hing um sein Gesicht, das den verzogenen Ausdruck langen Leidens trug. Die Frau ging schwei-
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