Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833].

Bild:
<< vorherige Seite

Nacht des ungeschaffenen Anfangs; drum ringen die Völker aus
Abend und Morgen den Kampf der Vernichtung; sie sehnen sich
nach endlicher Ruhe.

Diese Sehnsucht der Völker ist ein verlornes Paradies; aus sei-
nem Paradiese trieb den Sohn des Morgenlandes die Angst des
erwachten Gedankens, der umsonst nach Freiheit rang; gebannt in
die weitlagernde Einöde von Höhen und Tiefen, umfluthet von den
heimathlosen Horden der Urzeit, die er nur zu knechten, nicht zu
ordnen vermochte, verdammt zum ewigen Arhimanskampfe des Ge-
setzes und der Ohnmacht, zog er umsonst gen Abend, gegen die Völ-
ker der Freiheit.

Dieselbe Sehnsucht ist das Mährchen von der goldenen Zeit,
von der der Grieche träumte und sang und nicht müde wurde zu
dichten; denn da herrschte der Friede der seligen Götter und die
Menschen lebten fromm und glücklich und wandelten mit den Göt-
tern im heiligen Haine, ihr Himmel war auf Erden und der Freude
kein Ende. So dichtete der Grieche, und seine Sehnsucht gestaltete
sich zu den Kämpfen und Leiden der Heroen, zur Freiheit der Kraft
und des Willens; seine Welt ward die Bühne eines steten Ringens,
die Palästra des Gedankens, sein Leben dem großen Kampfspiel der
Zukunft geweiht, dessen Siegespalme jenseit des Meeres, jenseit
des erkämpften Perserreichs, an den stillen Ufern des Ganges grünt.
Dann ist die Zeit erfüllt, dann kämpft und siegt der Heldenjüng-
ling mit seinen Getreuen, dann jauchzen und frohlocken die Völker
vom Aufgang bis zum Niedergang; er aber kehrt ohne die Palme
des Ganges zurück, und um sein frühes Grab fluthet ein neues,
wilder gährendes Chaos.

Denselben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unablässig; die-
selbe Angst treibt die Völker Asiens gen Westen, dasselbe Verlangen
den Abendländer zum heiligen Grabe, zu den Schätzen Golkondas,
zum verschollenen Golde des Altai; mit allen Waffen der Gewalt
und List, der Wildheit und Bildung, des Glaubens und Wissens,
der Masse und des Gedankens treten neue und neue Völker in die
Schranken, und nur die Potenzen ihrer Gewalt unterscheiden sie.
Schon nistet Asien nah am Herzen Europas, schon hat Europa die
Thore des hohen Asiens erbrochen; wer kennt die Zukunft? Aber
einst, wenn aus Abend und Morgen der letzte Kampf entschieden

Nacht des ungeſchaffenen Anfangs; drum ringen die Völker aus
Abend und Morgen den Kampf der Vernichtung; ſie ſehnen ſich
nach endlicher Ruhe.

Dieſe Sehnſucht der Völker iſt ein verlornes Paradies; aus ſei-
nem Paradieſe trieb den Sohn des Morgenlandes die Angſt des
erwachten Gedankens, der umſonſt nach Freiheit rang; gebannt in
die weitlagernde Einöde von Höhen und Tiefen, umfluthet von den
heimathloſen Horden der Urzeit, die er nur zu knechten, nicht zu
ordnen vermochte, verdammt zum ewigen Arhimanskampfe des Ge-
ſetzes und der Ohnmacht, zog er umſonſt gen Abend, gegen die Völ-
ker der Freiheit.

Dieſelbe Sehnſucht iſt das Mährchen von der goldenen Zeit,
von der der Grieche träumte und ſang und nicht müde wurde zu
dichten; denn da herrſchte der Friede der ſeligen Götter und die
Menſchen lebten fromm und glücklich und wandelten mit den Göt-
tern im heiligen Haine, ihr Himmel war auf Erden und der Freude
kein Ende. So dichtete der Grieche, und ſeine Sehnſucht geſtaltete
ſich zu den Kämpfen und Leiden der Heroen, zur Freiheit der Kraft
und des Willens; ſeine Welt ward die Bühne eines ſteten Ringens,
die Paläſtra des Gedankens, ſein Leben dem großen Kampfſpiel der
Zukunft geweiht, deſſen Siegespalme jenſeit des Meeres, jenſeit
des erkämpften Perſerreichs, an den ſtillen Ufern des Ganges grünt.
Dann iſt die Zeit erfüllt, dann kämpft und ſiegt der Heldenjüng-
ling mit ſeinen Getreuen, dann jauchzen und frohlocken die Völker
vom Aufgang bis zum Niedergang; er aber kehrt ohne die Palme
des Ganges zurück, und um ſein frühes Grab fluthet ein neues,
wilder gährendes Chaos.

Denſelben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unabläſſig; die-
ſelbe Angſt treibt die Völker Aſiens gen Weſten, daſſelbe Verlangen
den Abendländer zum heiligen Grabe, zu den Schätzen Golkondas,
zum verſchollenen Golde des Altai; mit allen Waffen der Gewalt
und Liſt, der Wildheit und Bildung, des Glaubens und Wiſſens,
der Maſſe und des Gedankens treten neue und neue Völker in die
Schranken, und nur die Potenzen ihrer Gewalt unterſcheiden ſie.
Schon niſtet Aſien nah am Herzen Europas, ſchon hat Europa die
Thore des hohen Aſiens erbrochen; wer kennt die Zukunft? Aber
einſt, wenn aus Abend und Morgen der letzte Kampf entſchieden

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0016" n="2"/>
Nacht des unge&#x017F;chaffenen Anfangs; drum ringen die Völker aus<lb/>
Abend und Morgen den Kampf der Vernichtung; &#x017F;ie &#x017F;ehnen &#x017F;ich<lb/>
nach endlicher Ruhe.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;e Sehn&#x017F;ucht der Völker i&#x017F;t ein verlornes Paradies; aus &#x017F;ei-<lb/>
nem Paradie&#x017F;e trieb den Sohn des Morgenlandes die Ang&#x017F;t des<lb/>
erwachten Gedankens, der um&#x017F;on&#x017F;t nach Freiheit rang; gebannt in<lb/>
die weitlagernde Einöde von Höhen und Tiefen, umfluthet von den<lb/>
heimathlo&#x017F;en Horden der Urzeit, die er nur zu knechten, nicht zu<lb/>
ordnen vermochte, verdammt zum ewigen Arhimanskampfe des Ge-<lb/>
&#x017F;etzes und der Ohnmacht, zog er um&#x017F;on&#x017F;t gen Abend, gegen die Völ-<lb/>
ker der Freiheit.</p><lb/>
          <p>Die&#x017F;elbe Sehn&#x017F;ucht i&#x017F;t das Mährchen von der goldenen Zeit,<lb/>
von der der Grieche träumte und &#x017F;ang und nicht müde wurde zu<lb/>
dichten; denn da herr&#x017F;chte der Friede der &#x017F;eligen Götter und die<lb/>
Men&#x017F;chen lebten fromm und glücklich und wandelten mit den Göt-<lb/>
tern im heiligen Haine, ihr Himmel war auf Erden und der Freude<lb/>
kein Ende. So dichtete der Grieche, und &#x017F;eine Sehn&#x017F;ucht ge&#x017F;taltete<lb/>
&#x017F;ich zu den Kämpfen und Leiden der Heroen, zur Freiheit der Kraft<lb/>
und des Willens; &#x017F;eine Welt ward die Bühne eines &#x017F;teten Ringens,<lb/>
die Palä&#x017F;tra des Gedankens, &#x017F;ein Leben dem großen Kampf&#x017F;piel der<lb/>
Zukunft geweiht, de&#x017F;&#x017F;en Siegespalme jen&#x017F;eit des Meeres, jen&#x017F;eit<lb/>
des erkämpften Per&#x017F;erreichs, an den &#x017F;tillen Ufern des Ganges grünt.<lb/>
Dann i&#x017F;t die Zeit erfüllt, dann kämpft und &#x017F;iegt der Heldenjüng-<lb/>
ling mit &#x017F;einen Getreuen, dann jauchzen und frohlocken die Völker<lb/>
vom Aufgang bis zum Niedergang; er aber kehrt ohne die Palme<lb/>
des Ganges zurück, und um &#x017F;ein frühes Grab fluthet ein neues,<lb/>
wilder gährendes Chaos.</p><lb/>
          <p>Den&#x017F;elben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unablä&#x017F;&#x017F;ig; die-<lb/>
&#x017F;elbe Ang&#x017F;t treibt die Völker A&#x017F;iens gen We&#x017F;ten, da&#x017F;&#x017F;elbe Verlangen<lb/>
den Abendländer zum heiligen Grabe, zu den Schätzen Golkondas,<lb/>
zum ver&#x017F;chollenen Golde des Altai; mit allen Waffen der Gewalt<lb/>
und Li&#x017F;t, der Wildheit und Bildung, des Glaubens und Wi&#x017F;&#x017F;ens,<lb/>
der Ma&#x017F;&#x017F;e und des Gedankens treten neue und neue Völker in die<lb/>
Schranken, und nur die Potenzen ihrer Gewalt unter&#x017F;cheiden &#x017F;ie.<lb/>
Schon ni&#x017F;tet A&#x017F;ien nah am Herzen Europas, &#x017F;chon hat Europa die<lb/>
Thore des hohen A&#x017F;iens erbrochen; wer kennt die Zukunft? Aber<lb/>
ein&#x017F;t, wenn aus Abend und Morgen der letzte Kampf ent&#x017F;chieden<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[2/0016] Nacht des ungeſchaffenen Anfangs; drum ringen die Völker aus Abend und Morgen den Kampf der Vernichtung; ſie ſehnen ſich nach endlicher Ruhe. Dieſe Sehnſucht der Völker iſt ein verlornes Paradies; aus ſei- nem Paradieſe trieb den Sohn des Morgenlandes die Angſt des erwachten Gedankens, der umſonſt nach Freiheit rang; gebannt in die weitlagernde Einöde von Höhen und Tiefen, umfluthet von den heimathloſen Horden der Urzeit, die er nur zu knechten, nicht zu ordnen vermochte, verdammt zum ewigen Arhimanskampfe des Ge- ſetzes und der Ohnmacht, zog er umſonſt gen Abend, gegen die Völ- ker der Freiheit. Dieſelbe Sehnſucht iſt das Mährchen von der goldenen Zeit, von der der Grieche träumte und ſang und nicht müde wurde zu dichten; denn da herrſchte der Friede der ſeligen Götter und die Menſchen lebten fromm und glücklich und wandelten mit den Göt- tern im heiligen Haine, ihr Himmel war auf Erden und der Freude kein Ende. So dichtete der Grieche, und ſeine Sehnſucht geſtaltete ſich zu den Kämpfen und Leiden der Heroen, zur Freiheit der Kraft und des Willens; ſeine Welt ward die Bühne eines ſteten Ringens, die Paläſtra des Gedankens, ſein Leben dem großen Kampfſpiel der Zukunft geweiht, deſſen Siegespalme jenſeit des Meeres, jenſeit des erkämpften Perſerreichs, an den ſtillen Ufern des Ganges grünt. Dann iſt die Zeit erfüllt, dann kämpft und ſiegt der Heldenjüng- ling mit ſeinen Getreuen, dann jauchzen und frohlocken die Völker vom Aufgang bis zum Niedergang; er aber kehrt ohne die Palme des Ganges zurück, und um ſein frühes Grab fluthet ein neues, wilder gährendes Chaos. Denſelben Kampf wiederholen die Jahrhunderte unabläſſig; die- ſelbe Angſt treibt die Völker Aſiens gen Weſten, daſſelbe Verlangen den Abendländer zum heiligen Grabe, zu den Schätzen Golkondas, zum verſchollenen Golde des Altai; mit allen Waffen der Gewalt und Liſt, der Wildheit und Bildung, des Glaubens und Wiſſens, der Maſſe und des Gedankens treten neue und neue Völker in die Schranken, und nur die Potenzen ihrer Gewalt unterſcheiden ſie. Schon niſtet Aſien nah am Herzen Europas, ſchon hat Europa die Thore des hohen Aſiens erbrochen; wer kennt die Zukunft? Aber einſt, wenn aus Abend und Morgen der letzte Kampf entſchieden

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/16
Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/16>, abgerufen am 21.11.2024.