des Stromes die wildesten Felsenmassen empor, sie öffnen sei- nen Fluthen ein breites Thor, und das Thal von Lamghanat führt zu dem fruchtüppigen Tropenklima Indiens hinab. Und doch ist es noch nicht das rechte Indien, das sich hier öffnet; die fünf Ströme des Panschab, die Ueberschwemmungen der Sommer, der breite Gürtel der Wüste im Osten und Süden machen das Abend- land Indiens zu einer zweiten Schutzwehr des heiligen Ganges- landes, und es ist, als habe die Natur einen Liebling vor Gefah- ren, denen sie selbst einen Weg geöffnet, doch noch zu schützen ver- suchen wollen. An das Gangesland ist alles Heilige und Große, was der Hindu kennt, geknüpft, dort ist der uralte fromme Glaube und die strenge Sonderung der Kasten, die aus Brahma gezeugt sind, heimisch, dort sind die heiligsten Orte der Wallfahrten und der Strom des geweihten Wassers; die Stämme im Abend der Wü- ste, obschon verwandten Geschlechtes und Glaubens, sind abgewi- chen von der strengen Reinheit des göttlichen Gesetzes, sie haben nicht den Verkehr mit den Javanen in der Außenwelt gemieden, sie haben nicht die Würde königlicher Herrschaft, nicht die Lauter- keit der Kasten, nicht die Abgeschlossenheit gegen die unreinen und verhaßten Fremdlinge bewahrt, in der doch Bedingung, Sicherung und Beweis des heiligen Lebens beruht; sie sind die Entarteten und den Fremdlingen Preis gegeben.
Und in der That, die Fremdlinge haben nicht umsonst jenes Völkerthor, das zum schönen Indien hinabführt, geöffnet gesehen. Indier wohnten an dem Weststrom aufwärts bis zu seinen Quel- len im Paropamisus; aber sie widerstanden dem Völkerdrängen nicht, das von Abend her sich den glücklichen Ebenen Indiens zuwendete. Aelter als die Geschichte ist der Beginn dieses Vordringens gen Osten; aus den wüsten Gebirgen Arianas, aus den Klippeneinöden von Korassan sind nomadische Horden dorthinabgewandert; aber zu roh zum Erobern blieben sie mit ihren Heerden auf den Ge- birgsweiden, die zu dem reichen Thallande des Indus hinabschau- en 1). Dann ward Assyrien mächtig; aber die stolze Semiramis
1) Für diese Angaben darf ich nur auf die treffliche Abhand- lung Ritters: "Ueber Alexanders Zug am Kaukasus" in den Abhand. der Berliner Akademie 1829 verweisen. Der Choaspes, der Name des Kahmehflusses, ist vollkommen Iranisch.
des Stromes die wildeſten Felſenmaſſen empor, ſie oͤffnen ſei- nen Fluthen ein breites Thor, und das Thal von Lamghanat fuͤhrt zu dem fruchtuͤppigen Tropenklima Indiens hinab. Und doch iſt es noch nicht das rechte Indien, das ſich hier oͤffnet; die fuͤnf Stroͤme des Panſchab, die Ueberſchwemmungen der Sommer, der breite Guͤrtel der Wuͤſte im Oſten und Suͤden machen das Abend- land Indiens zu einer zweiten Schutzwehr des heiligen Ganges- landes, und es iſt, als habe die Natur einen Liebling vor Gefah- ren, denen ſie ſelbſt einen Weg geoͤffnet, doch noch zu ſchuͤtzen ver- ſuchen wollen. An das Gangesland iſt alles Heilige und Große, was der Hindu kennt, geknuͤpft, dort iſt der uralte fromme Glaube und die ſtrenge Sonderung der Kaſten, die aus Brahma gezeugt ſind, heimiſch, dort ſind die heiligſten Orte der Wallfahrten und der Strom des geweihten Waſſers; die Staͤmme im Abend der Wuͤ- ſte, obſchon verwandten Geſchlechtes und Glaubens, ſind abgewi- chen von der ſtrengen Reinheit des goͤttlichen Geſetzes, ſie haben nicht den Verkehr mit den Javanen in der Außenwelt gemieden, ſie haben nicht die Wuͤrde koͤniglicher Herrſchaft, nicht die Lauter- keit der Kaſten, nicht die Abgeſchloſſenheit gegen die unreinen und verhaßten Fremdlinge bewahrt, in der doch Bedingung, Sicherung und Beweis des heiligen Lebens beruht; ſie ſind die Entarteten und den Fremdlingen Preis gegeben.
Und in der That, die Fremdlinge haben nicht umſonſt jenes Voͤlkerthor, das zum ſchoͤnen Indien hinabfuͤhrt, geoͤffnet geſehen. Indier wohnten an dem Weſtſtrom aufwaͤrts bis zu ſeinen Quel- len im Paropamiſus; aber ſie widerſtanden dem Voͤlkerdraͤngen nicht, das von Abend her ſich den gluͤcklichen Ebenen Indiens zuwendete. Aelter als die Geſchichte iſt der Beginn dieſes Vordringens gen Oſten; aus den wuͤſten Gebirgen Arianas, aus den Klippeneinoͤden von Koraſſan ſind nomadiſche Horden dorthinabgewandert; aber zu roh zum Erobern blieben ſie mit ihren Heerden auf den Ge- birgsweiden, die zu dem reichen Thallande des Indus hinabſchau- en 1). Dann ward Aſſyrien maͤchtig; aber die ſtolze Semiramis
1) Fuͤr dieſe Angaben darf ich nur auf die treffliche Abhand- lung Ritters: „Ueber Alexanders Zug am Kaukaſus“ in den Abhand. der Berliner Akademie 1829 verweiſen. Der Choaspes, der Name des Kahmehfluſſes, iſt vollkommen Iraniſch.
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des Stromes die wildeſten Felſenmaſſen empor, ſie oͤffnen ſei-
nen Fluthen ein breites Thor, und das Thal von Lamghanat
fuͤhrt zu dem fruchtuͤppigen Tropenklima Indiens hinab. Und doch
iſt es noch nicht das rechte Indien, das ſich hier oͤffnet; die fuͤnf
Stroͤme des Panſchab, die Ueberſchwemmungen der Sommer, der
breite Guͤrtel der Wuͤſte im Oſten und Suͤden machen das Abend-
land Indiens zu einer zweiten Schutzwehr des heiligen Ganges-
landes, und es iſt, als habe die Natur einen Liebling vor Gefah-
ren, denen ſie ſelbſt einen Weg geoͤffnet, doch noch zu ſchuͤtzen ver-
ſuchen wollen. An das Gangesland iſt alles Heilige und Große,
was der Hindu kennt, geknuͤpft, dort iſt der uralte fromme Glaube
und die ſtrenge Sonderung der Kaſten, die aus Brahma gezeugt
ſind, heimiſch, dort ſind die heiligſten Orte der Wallfahrten und der
Strom des geweihten Waſſers; die Staͤmme im Abend der Wuͤ-
ſte, obſchon verwandten Geſchlechtes und Glaubens, ſind abgewi-
chen von der ſtrengen Reinheit des goͤttlichen Geſetzes, ſie haben
nicht den Verkehr mit den Javanen in der Außenwelt gemieden,
ſie haben nicht die Wuͤrde koͤniglicher Herrſchaft, nicht die Lauter-
keit der Kaſten, nicht die Abgeſchloſſenheit gegen die unreinen und
verhaßten Fremdlinge bewahrt, in der doch Bedingung, Sicherung
und Beweis des heiligen Lebens beruht; ſie ſind die Entarteten und
den Fremdlingen Preis gegeben.
Und in der That, die Fremdlinge haben nicht umſonſt jenes
Voͤlkerthor, das zum ſchoͤnen Indien hinabfuͤhrt, geoͤffnet geſehen.
Indier wohnten an dem Weſtſtrom aufwaͤrts bis zu ſeinen Quel-
len im Paropamiſus; aber ſie widerſtanden dem Voͤlkerdraͤngen nicht,
das von Abend her ſich den gluͤcklichen Ebenen Indiens zuwendete.
Aelter als die Geſchichte iſt der Beginn dieſes Vordringens gen
Oſten; aus den wuͤſten Gebirgen Arianas, aus den Klippeneinoͤden
von Koraſſan ſind nomadiſche Horden dorthinabgewandert; aber
zu roh zum Erobern blieben ſie mit ihren Heerden auf den Ge-
birgsweiden, die zu dem reichen Thallande des Indus hinabſchau-
en 1). Dann ward Aſſyrien maͤchtig; aber die ſtolze Semiramis
1) Fuͤr dieſe Angaben darf ich nur auf die treffliche Abhand-
lung Ritters: „Ueber Alexanders Zug am Kaukaſus“ in den Abhand.
der Berliner Akademie 1829 verweiſen. Der Choaspes, der Name
des Kahmehfluſſes, iſt vollkommen Iraniſch.
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Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/373>, abgerufen am 29.11.2024.
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