bald die Erscheinungen für die Gedanken, bald die Erkenntniß für die Erscheinungen unzulänglich nannte.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Umgestaltung des Völkerlebens in sittlicher, socialer und religiöser Beziehung langsa- mer und bis auf einzelne Eruptionen unmerklich vor sich gehen mußte; und wenn sich gegen das Neue, welches unter Alexanders Regiment natürlicher Weise zu plötzlich, zu unvorbereitet, fast ge- waltsam ins Leben gerufen war, mit seinem Tode eine Reaction hervorthat, welche in den dreißig Jahren der Diadochenkämpfe bald dieser, bald jener Parthei beitrat, so war das Resultat kein anderes, als daß das Neue endlich zur Gewohnheit ward, und, nach den volksthümlichen Verschiedenheiten modificirt, solche For- men annahm, in die sich das Leben der Völker fortan ruhig und friedlich hineinbilden konnte. Auf ein allmähliges Verschwinden nationaler Vorurtheile, auf eine gegenseitige Annäherung in Be- dürfnissen, Sitten und Ansichten, auf ein positives und unmittel- bares Verhalten der sonst entzweiten Volksthümlichkeiten gründete sich ein vollkommen neues geselliges Leben; und wie etwa in neuer Zeit der Gebrauch der französischen Sprache und der Frack die Einheit der civilisirten Welt bekundet, so hat sich in jener Helle- nistischen Zeit und, ich zweifele nicht, unter ähnlichen Formen eine Weltbildung durchgearbeitet, die am Nil und Jaxartes dieselben conventionellen Formen als die der guten Gesellschaft, der gebilde- ten Welt geltend machte. Attische Sprache und Sitte war die Richtschnur der Höfe von Alexandria und Babylon, von Bak- tra und Pergamum gewesen, und als der Hellenismus seine poli- tische Selbstständigkeit dem Römischen Staate gegenüber verlor, begann er in Rom die Herrschaft der Mode und Bildung zu ge- winnen. So darf man den Hellenismus mit Recht die erste Welteinheit nennen; während das Achämenidenreich nichts als ein äußerliches Agregat von Ländermassen war, deren Bevölkerungen nur die gleiche Knechtschaft mit einander gemein hatten, blieb in den Ländern des Hellenismus, selbst als sie zu verschiedenen Rei- chen zerfielen, die höhere Einheit der Mode, des guten Tons, der Bildung, oder wie man sonst dieses stets wechselnde Niveau der menschlichen Gesellschaften nennen will.
Auf die sittlichen Zustände der Völker haben politische Ver-
bald die Erſcheinungen fuͤr die Gedanken, bald die Erkenntniß fuͤr die Erſcheinungen unzulaͤnglich nannte.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Umgeſtaltung des Voͤlkerlebens in ſittlicher, ſocialer und religioͤſer Beziehung langſa- mer und bis auf einzelne Eruptionen unmerklich vor ſich gehen mußte; und wenn ſich gegen das Neue, welches unter Alexanders Regiment natuͤrlicher Weiſe zu ploͤtzlich, zu unvorbereitet, faſt ge- waltſam ins Leben gerufen war, mit ſeinem Tode eine Reaction hervorthat, welche in den dreißig Jahren der Diadochenkaͤmpfe bald dieſer, bald jener Parthei beitrat, ſo war das Reſultat kein anderes, als daß das Neue endlich zur Gewohnheit ward, und, nach den volksthuͤmlichen Verſchiedenheiten modificirt, ſolche For- men annahm, in die ſich das Leben der Voͤlker fortan ruhig und friedlich hineinbilden konnte. Auf ein allmaͤhliges Verſchwinden nationaler Vorurtheile, auf eine gegenſeitige Annaͤherung in Be- duͤrfniſſen, Sitten und Anſichten, auf ein poſitives und unmittel- bares Verhalten der ſonſt entzweiten Volksthuͤmlichkeiten gruͤndete ſich ein vollkommen neues geſelliges Leben; und wie etwa in neuer Zeit der Gebrauch der franzoͤſiſchen Sprache und der Frack die Einheit der civiliſirten Welt bekundet, ſo hat ſich in jener Helle- niſtiſchen Zeit und, ich zweifele nicht, unter aͤhnlichen Formen eine Weltbildung durchgearbeitet, die am Nil und Jaxartes dieſelben conventionellen Formen als die der guten Geſellſchaft, der gebilde- ten Welt geltend machte. Attiſche Sprache und Sitte war die Richtſchnur der Hoͤfe von Alexandria und Babylon, von Bak- tra und Pergamum geweſen, und als der Hellenismus ſeine poli- tiſche Selbſtſtaͤndigkeit dem Roͤmiſchen Staate gegenuͤber verlor, begann er in Rom die Herrſchaft der Mode und Bildung zu ge- winnen. So darf man den Hellenismus mit Recht die erſte Welteinheit nennen; waͤhrend das Achaͤmenidenreich nichts als ein aͤußerliches Agregat von Laͤndermaſſen war, deren Bevoͤlkerungen nur die gleiche Knechtſchaft mit einander gemein hatten, blieb in den Laͤndern des Hellenismus, ſelbſt als ſie zu verſchiedenen Rei- chen zerfielen, die hoͤhere Einheit der Mode, des guten Tons, der Bildung, oder wie man ſonſt dieſes ſtets wechſelnde Niveau der menſchlichen Geſellſchaften nennen will.
Auf die ſittlichen Zuſtaͤnde der Voͤlker haben politiſche Ver-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0562"n="548"/>
bald die Erſcheinungen fuͤr die Gedanken, bald die Erkenntniß fuͤr<lb/>
die Erſcheinungen unzulaͤnglich nannte.</p><lb/><p>Es liegt in der Natur der Sache, daß die Umgeſtaltung des<lb/>
Voͤlkerlebens in ſittlicher, ſocialer und religioͤſer Beziehung langſa-<lb/>
mer und bis auf einzelne Eruptionen unmerklich vor ſich gehen<lb/>
mußte; und wenn ſich gegen das Neue, welches unter Alexanders<lb/>
Regiment natuͤrlicher Weiſe zu ploͤtzlich, zu unvorbereitet, faſt ge-<lb/>
waltſam ins Leben gerufen war, mit ſeinem Tode eine Reaction<lb/>
hervorthat, welche in den dreißig Jahren der Diadochenkaͤmpfe<lb/>
bald dieſer, bald jener Parthei beitrat, ſo war das Reſultat kein<lb/>
anderes, als daß das Neue endlich zur Gewohnheit ward, und,<lb/>
nach den volksthuͤmlichen Verſchiedenheiten modificirt, ſolche For-<lb/>
men annahm, in die ſich das Leben der Voͤlker fortan ruhig und<lb/>
friedlich hineinbilden konnte. Auf ein allmaͤhliges Verſchwinden<lb/>
nationaler Vorurtheile, auf eine gegenſeitige Annaͤherung in Be-<lb/>
duͤrfniſſen, Sitten und Anſichten, auf ein poſitives und unmittel-<lb/>
bares Verhalten der ſonſt entzweiten Volksthuͤmlichkeiten gruͤndete<lb/>ſich ein vollkommen neues geſelliges Leben; und wie etwa in neuer<lb/>
Zeit der Gebrauch der franzoͤſiſchen Sprache und der Frack die<lb/>
Einheit der civiliſirten Welt bekundet, ſo hat ſich in jener Helle-<lb/>
niſtiſchen Zeit und, ich zweifele nicht, unter aͤhnlichen Formen eine<lb/>
Weltbildung durchgearbeitet, die am Nil und Jaxartes dieſelben<lb/>
conventionellen Formen als die der guten Geſellſchaft, der gebilde-<lb/>
ten Welt geltend machte. Attiſche Sprache und Sitte war die<lb/>
Richtſchnur der Hoͤfe von Alexandria und Babylon, von Bak-<lb/>
tra und Pergamum geweſen, und als der Hellenismus ſeine poli-<lb/>
tiſche Selbſtſtaͤndigkeit dem Roͤmiſchen Staate gegenuͤber verlor,<lb/>
begann er in Rom die Herrſchaft der Mode und Bildung zu ge-<lb/>
winnen. So darf man den Hellenismus mit Recht die erſte<lb/>
Welteinheit nennen; waͤhrend das Achaͤmenidenreich nichts als ein<lb/>
aͤußerliches Agregat von Laͤndermaſſen war, deren Bevoͤlkerungen<lb/>
nur die gleiche Knechtſchaft mit einander gemein hatten, blieb in<lb/>
den Laͤndern des Hellenismus, ſelbſt als ſie zu verſchiedenen Rei-<lb/>
chen zerfielen, die hoͤhere Einheit der Mode, des guten Tons, der<lb/>
Bildung, oder wie man ſonſt dieſes ſtets wechſelnde Niveau der<lb/>
menſchlichen Geſellſchaften nennen will.</p><lb/><p>Auf die ſittlichen Zuſtaͤnde der Voͤlker haben politiſche Ver-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[548/0562]
bald die Erſcheinungen fuͤr die Gedanken, bald die Erkenntniß fuͤr
die Erſcheinungen unzulaͤnglich nannte.
Es liegt in der Natur der Sache, daß die Umgeſtaltung des
Voͤlkerlebens in ſittlicher, ſocialer und religioͤſer Beziehung langſa-
mer und bis auf einzelne Eruptionen unmerklich vor ſich gehen
mußte; und wenn ſich gegen das Neue, welches unter Alexanders
Regiment natuͤrlicher Weiſe zu ploͤtzlich, zu unvorbereitet, faſt ge-
waltſam ins Leben gerufen war, mit ſeinem Tode eine Reaction
hervorthat, welche in den dreißig Jahren der Diadochenkaͤmpfe
bald dieſer, bald jener Parthei beitrat, ſo war das Reſultat kein
anderes, als daß das Neue endlich zur Gewohnheit ward, und,
nach den volksthuͤmlichen Verſchiedenheiten modificirt, ſolche For-
men annahm, in die ſich das Leben der Voͤlker fortan ruhig und
friedlich hineinbilden konnte. Auf ein allmaͤhliges Verſchwinden
nationaler Vorurtheile, auf eine gegenſeitige Annaͤherung in Be-
duͤrfniſſen, Sitten und Anſichten, auf ein poſitives und unmittel-
bares Verhalten der ſonſt entzweiten Volksthuͤmlichkeiten gruͤndete
ſich ein vollkommen neues geſelliges Leben; und wie etwa in neuer
Zeit der Gebrauch der franzoͤſiſchen Sprache und der Frack die
Einheit der civiliſirten Welt bekundet, ſo hat ſich in jener Helle-
niſtiſchen Zeit und, ich zweifele nicht, unter aͤhnlichen Formen eine
Weltbildung durchgearbeitet, die am Nil und Jaxartes dieſelben
conventionellen Formen als die der guten Geſellſchaft, der gebilde-
ten Welt geltend machte. Attiſche Sprache und Sitte war die
Richtſchnur der Hoͤfe von Alexandria und Babylon, von Bak-
tra und Pergamum geweſen, und als der Hellenismus ſeine poli-
tiſche Selbſtſtaͤndigkeit dem Roͤmiſchen Staate gegenuͤber verlor,
begann er in Rom die Herrſchaft der Mode und Bildung zu ge-
winnen. So darf man den Hellenismus mit Recht die erſte
Welteinheit nennen; waͤhrend das Achaͤmenidenreich nichts als ein
aͤußerliches Agregat von Laͤndermaſſen war, deren Bevoͤlkerungen
nur die gleiche Knechtſchaft mit einander gemein hatten, blieb in
den Laͤndern des Hellenismus, ſelbſt als ſie zu verſchiedenen Rei-
chen zerfielen, die hoͤhere Einheit der Mode, des guten Tons, der
Bildung, oder wie man ſonſt dieſes ſtets wechſelnde Niveau der
menſchlichen Geſellſchaften nennen will.
Auf die ſittlichen Zuſtaͤnde der Voͤlker haben politiſche Ver-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Droysen, Johann Gustav: Geschichte Alexanders des Großen. Hamburg, [1833], S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_alexander_1833/562>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.