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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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mag sie theologisch das Absolute zu ihrem Ausgangspunkt oder phi-
losophisch zu ihrem Zielpunkt haben, noch diejenige Empirie, die die
Welt der Erscheinungen nach ihrem quantitativen Verhalten fasst,
noch irgend eine Disciplin aus den praktischen Bereichen der sitt-
lichen Welt.

Unser Begründer der Wissenschaft der Geschichte geht mit benei-
denswerther Unbefangenheit an seine Aufgabe. Er hält es nicht für
nothwendig die Begriffe zu erörtern, mit denen er arbeiten will, den
Bereich zu umgrenzen, in dem seine Gesetze ihre Anwendung finden.
Was Wissenschaft ist, denkt er, weiss jeder, was Geschichte ist, eben
so. Doch nein, er macht gelegentlich bemerklich, was sie nicht ist;
er citirt mit herzlicher Zustimmung Comte phil. pos. V. p. 18, der mit
Unwillen bemerkt: "die unzusammenhängende Anhäufung von That-
sachen werde ganz ungehörig als Geschichte bezeichnet". Wie denk-
würdig ist dieser Satz des Französischen Denkers, wie lehrreich, dass
der Englische ihn sich aneignet. Gewiss man nennt den unabsehbaren
Verlauf von Thatsachen, in dem wir das Leben der Menschen, der
Völker, der Menschheit sich bewegen sehen, Geschichte, wie man ja
eine Gesammtheit von Erscheinungen anderer Art unter dem Namen
Natur zusammenfasst. Aber hat denn irgend jemand gemeint, dass
eine Sammlung von getrockneten Pflanzen Botanik, von ausgestopften
oder nicht ausgestopften Thierbälgen Zoologie sei? Hat irgend jemand
die Meinung gehabt, Thatsachen sammeln und, zusammenhängend oder
nicht, aufhäufen zu können? Thatsachen als da sind Schlachten, Re-
volutionen, Handelskrisen, Städtegründungen u. s. w.? hat wirklich
bisher "die Zunft der Historiker" nicht gemerkt, dass sich die That-
sachen von dem, wie wir sie wissen, unterscheiden?

Wenn Buckle uns im Dunkeln tappenden Historikern wirklich ein
Licht anzünden wollte, so hätte er vor Allem sich und uns klar machen
müssen, wie und mit welchem Recht sich jener Name Geschichte für
eine bestimmte Reihe von Erscheinungen hat fixiren können, wie der
der Natur für eine andere; er hätte zeigen müssen, was es bedeutet,
dass der wunderliche Epitomator, der Menschengeist, die Erscheinungen
dem Raum nach als Natur, die der Zeit nach als Geschichte zusam-
menfasst, nicht weil sie an sich und objectiv so sind und so sich
scheiden, sondern um sie fassen und denken zu können; er würde dann

mag sie theologisch das Absolute zu ihrem Ausgangspunkt oder phi-
losophisch zu ihrem Zielpunkt haben, noch diejenige Empirie, die die
Welt der Erscheinungen nach ihrem quantitativen Verhalten fasst,
noch irgend eine Disciplin aus den praktischen Bereichen der sitt-
lichen Welt.

Unser Begründer der Wissenschaft der Geschichte geht mit benei-
denswerther Unbefangenheit an seine Aufgabe. Er hält es nicht für
nothwendig die Begriffe zu erörtern, mit denen er arbeiten will, den
Bereich zu umgrenzen, in dem seine Gesetze ihre Anwendung finden.
Was Wissenschaft ist, denkt er, weiss jeder, was Geschichte ist, eben
so. Doch nein, er macht gelegentlich bemerklich, was sie nicht ist;
er citirt mit herzlicher Zustimmung Comte phil. pos. V. p. 18, der mit
Unwillen bemerkt: „die unzusammenhängende Anhäufung von That-
sachen werde ganz ungehörig als Geschichte bezeichnet“. Wie denk-
würdig ist dieser Satz des Französischen Denkers, wie lehrreich, dass
der Englische ihn sich aneignet. Gewiss man nennt den unabsehbaren
Verlauf von Thatsachen, in dem wir das Leben der Menschen, der
Völker, der Menschheit sich bewegen sehen, Geschichte, wie man ja
eine Gesammtheit von Erscheinungen anderer Art unter dem Namen
Natur zusammenfasst. Aber hat denn irgend jemand gemeint, dass
eine Sammlung von getrockneten Pflanzen Botanik, von ausgestopften
oder nicht ausgestopften Thierbälgen Zoologie sei? Hat irgend jemand
die Meinung gehabt, Thatsachen sammeln und, zusammenhängend oder
nicht, aufhäufen zu können? Thatsachen als da sind Schlachten, Re-
volutionen, Handelskrisen, Städtegründungen u. s. w.? hat wirklich
bisher „die Zunft der Historiker“ nicht gemerkt, dass sich die That-
sachen von dem, wie wir sie wissen, unterscheiden?

Wenn Buckle uns im Dunkeln tappenden Historikern wirklich ein
Licht anzünden wollte, so hätte er vor Allem sich und uns klar machen
müssen, wie und mit welchem Recht sich jener Name Geschichte für
eine bestimmte Reihe von Erscheinungen hat fixiren können, wie der
der Natur für eine andere; er hätte zeigen müssen, was es bedeutet,
dass der wunderliche Epitomator, der Menschengeist, die Erscheinungen
dem Raum nach als Natur, die der Zeit nach als Geschichte zusam-
menfasst, nicht weil sie an sich und objectiv so sind und so sich
scheiden, sondern um sie fassen und denken zu können; er würde dann

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[48/0057] mag sie theologisch das Absolute zu ihrem Ausgangspunkt oder phi- losophisch zu ihrem Zielpunkt haben, noch diejenige Empirie, die die Welt der Erscheinungen nach ihrem quantitativen Verhalten fasst, noch irgend eine Disciplin aus den praktischen Bereichen der sitt- lichen Welt. Unser Begründer der Wissenschaft der Geschichte geht mit benei- denswerther Unbefangenheit an seine Aufgabe. Er hält es nicht für nothwendig die Begriffe zu erörtern, mit denen er arbeiten will, den Bereich zu umgrenzen, in dem seine Gesetze ihre Anwendung finden. Was Wissenschaft ist, denkt er, weiss jeder, was Geschichte ist, eben so. Doch nein, er macht gelegentlich bemerklich, was sie nicht ist; er citirt mit herzlicher Zustimmung Comte phil. pos. V. p. 18, der mit Unwillen bemerkt: „die unzusammenhängende Anhäufung von That- sachen werde ganz ungehörig als Geschichte bezeichnet“. Wie denk- würdig ist dieser Satz des Französischen Denkers, wie lehrreich, dass der Englische ihn sich aneignet. Gewiss man nennt den unabsehbaren Verlauf von Thatsachen, in dem wir das Leben der Menschen, der Völker, der Menschheit sich bewegen sehen, Geschichte, wie man ja eine Gesammtheit von Erscheinungen anderer Art unter dem Namen Natur zusammenfasst. Aber hat denn irgend jemand gemeint, dass eine Sammlung von getrockneten Pflanzen Botanik, von ausgestopften oder nicht ausgestopften Thierbälgen Zoologie sei? Hat irgend jemand die Meinung gehabt, Thatsachen sammeln und, zusammenhängend oder nicht, aufhäufen zu können? Thatsachen als da sind Schlachten, Re- volutionen, Handelskrisen, Städtegründungen u. s. w.? hat wirklich bisher „die Zunft der Historiker“ nicht gemerkt, dass sich die That- sachen von dem, wie wir sie wissen, unterscheiden? Wenn Buckle uns im Dunkeln tappenden Historikern wirklich ein Licht anzünden wollte, so hätte er vor Allem sich und uns klar machen müssen, wie und mit welchem Recht sich jener Name Geschichte für eine bestimmte Reihe von Erscheinungen hat fixiren können, wie der der Natur für eine andere; er hätte zeigen müssen, was es bedeutet, dass der wunderliche Epitomator, der Menschengeist, die Erscheinungen dem Raum nach als Natur, die der Zeit nach als Geschichte zusam- menfasst, nicht weil sie an sich und objectiv so sind und so sich scheiden, sondern um sie fassen und denken zu können; er würde dann

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/57>, abgerufen am 21.11.2024.