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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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der summirten Arbeit derer, die vor uns waren? Alle Vergangenheiten,
die ganze "Geschichte" ist ideell in der Gegenwart und dem, was sie
hat, enthalten; und wenn wir uns diesen ihren idealen Gehalt zum
Bewusstsein bringen, wenn wir uns, wie das, was ist, geworden ist,
etwa in erzählender Form vergegenwärtigen, was thun wir da anders
als die Geschichte zum Verständniss dessen, was ist, dessen, worin
wir uns denkend, wollend, handelnd bewegen, benutzen? Das ist der
Weg, es ist einer der Wege, das dürftige und einsame Hier und Jetzt
unseres ephemeren Daseins unermesslich zu erweitern, zu bereichern,
zu steigern. In dem Maasse als wir selbst -- ich meine die arbeitenden
Menschengeschlechter -- höher steigen, erweitert sich der Horizont,
den wir überschauen, und das Einzelne innerhalb desselben zeigt sich
uns mit jedem neuen Standpunkt in neuen Perspectiven, in neuen und
weiteren Beziehungen; die Weite unseres Horizonts ist ziemlich genau
das Maass der von uns erreichten Höhe; und in demselben Maasse hat
sich der Kreis der Mittel, der Bedingungen, der Aufgaben unseres
Daseins erweitert. Die Geschichte giebt uns das Bewusstsein dessen,
was wir sind und haben.

Es ist der Mühe werth, sich klar zu machen, dass sich in diesem
Zusammenhange ergiebt, was Bildung ist und was sie uns bedeutet.
Wenn Göthe sagt: "was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es
um es zu besitzen", so finden wir hier die Bewährung dieses dunklen
Spruchs. Wie hoch immerhin die Stelle des Zeitalters, des Volkes
sein mag, in das wir Einzelne hineingeboren sind, wie gross die Fülle
des Ererbten, das uns ohne Weiteres zu Gute kommt, wir haben sie,
als hätten wir sie nicht, so lange wir nicht durch eigene Arbeit sie
erworben, sie als das, was sie ist, als das Ergebniss unablässiger
Arbeit derer, die vor uns waren, erkannt haben. Das in der Ge-
schichte der Zeiten und Völker, der Menschheit Erarbeitete im Geist,
dem Gedanken nach, als Continuität durcharbeitet und durchlebt haben,
heisst Bildung. Die Civilisation begnügt sich mit den Resultaten der
Bildung; sie ist in der Fülle des Reichthums arm, in der Opulenz des
Geniessens blasirt.

Nachdem Buckle beklagt hat, wie wenig bisher die reiche und
immer wachsende "Masse von Thatsachen" benutzt worden sei, giebt
er den Grund, "den eigenthümlich unglücklichen Umstand" an, der

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der summirten Arbeit derer, die vor uns waren? Alle Vergangenheiten,
die ganze „Geschichte“ ist ideell in der Gegenwart und dem, was sie
hat, enthalten; und wenn wir uns diesen ihren idealen Gehalt zum
Bewusstsein bringen, wenn wir uns, wie das, was ist, geworden ist,
etwa in erzählender Form vergegenwärtigen, was thun wir da anders
als die Geschichte zum Verständniss dessen, was ist, dessen, worin
wir uns denkend, wollend, handelnd bewegen, benutzen? Das ist der
Weg, es ist einer der Wege, das dürftige und einsame Hier und Jetzt
unseres ephemeren Daseins unermesslich zu erweitern, zu bereichern,
zu steigern. In dem Maasse als wir selbst — ich meine die arbeitenden
Menschengeschlechter — höher steigen, erweitert sich der Horizont,
den wir überschauen, und das Einzelne innerhalb desselben zeigt sich
uns mit jedem neuen Standpunkt in neuen Perspectiven, in neuen und
weiteren Beziehungen; die Weite unseres Horizonts ist ziemlich genau
das Maass der von uns erreichten Höhe; und in demselben Maasse hat
sich der Kreis der Mittel, der Bedingungen, der Aufgaben unseres
Daseins erweitert. Die Geschichte giebt uns das Bewusstsein dessen,
was wir sind und haben.

Es ist der Mühe werth, sich klar zu machen, dass sich in diesem
Zusammenhange ergiebt, was Bildung ist und was sie uns bedeutet.
Wenn Göthe sagt: „was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es
um es zu besitzen“, so finden wir hier die Bewährung dieses dunklen
Spruchs. Wie hoch immerhin die Stelle des Zeitalters, des Volkes
sein mag, in das wir Einzelne hineingeboren sind, wie gross die Fülle
des Ererbten, das uns ohne Weiteres zu Gute kommt, wir haben sie,
als hätten wir sie nicht, so lange wir nicht durch eigene Arbeit sie
erworben, sie als das, was sie ist, als das Ergebniss unablässiger
Arbeit derer, die vor uns waren, erkannt haben. Das in der Ge-
schichte der Zeiten und Völker, der Menschheit Erarbeitete im Geist,
dem Gedanken nach, als Continuität durcharbeitet und durchlebt haben,
heisst Bildung. Die Civilisation begnügt sich mit den Resultaten der
Bildung; sie ist in der Fülle des Reichthums arm, in der Opulenz des
Geniessens blasirt.

Nachdem Buckle beklagt hat, wie wenig bisher die reiche und
immer wachsende „Masse von Thatsachen“ benutzt worden sei, giebt
er den Grund, „den eigenthümlich unglücklichen Umstand“ an, der

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[51/0060] der summirten Arbeit derer, die vor uns waren? Alle Vergangenheiten, die ganze „Geschichte“ ist ideell in der Gegenwart und dem, was sie hat, enthalten; und wenn wir uns diesen ihren idealen Gehalt zum Bewusstsein bringen, wenn wir uns, wie das, was ist, geworden ist, etwa in erzählender Form vergegenwärtigen, was thun wir da anders als die Geschichte zum Verständniss dessen, was ist, dessen, worin wir uns denkend, wollend, handelnd bewegen, benutzen? Das ist der Weg, es ist einer der Wege, das dürftige und einsame Hier und Jetzt unseres ephemeren Daseins unermesslich zu erweitern, zu bereichern, zu steigern. In dem Maasse als wir selbst — ich meine die arbeitenden Menschengeschlechter — höher steigen, erweitert sich der Horizont, den wir überschauen, und das Einzelne innerhalb desselben zeigt sich uns mit jedem neuen Standpunkt in neuen Perspectiven, in neuen und weiteren Beziehungen; die Weite unseres Horizonts ist ziemlich genau das Maass der von uns erreichten Höhe; und in demselben Maasse hat sich der Kreis der Mittel, der Bedingungen, der Aufgaben unseres Daseins erweitert. Die Geschichte giebt uns das Bewusstsein dessen, was wir sind und haben. Es ist der Mühe werth, sich klar zu machen, dass sich in diesem Zusammenhange ergiebt, was Bildung ist und was sie uns bedeutet. Wenn Göthe sagt: „was du ererbt von deinen Vätern hast, erwirb es um es zu besitzen“, so finden wir hier die Bewährung dieses dunklen Spruchs. Wie hoch immerhin die Stelle des Zeitalters, des Volkes sein mag, in das wir Einzelne hineingeboren sind, wie gross die Fülle des Ererbten, das uns ohne Weiteres zu Gute kommt, wir haben sie, als hätten wir sie nicht, so lange wir nicht durch eigene Arbeit sie erworben, sie als das, was sie ist, als das Ergebniss unablässiger Arbeit derer, die vor uns waren, erkannt haben. Das in der Ge- schichte der Zeiten und Völker, der Menschheit Erarbeitete im Geist, dem Gedanken nach, als Continuität durcharbeitet und durchlebt haben, heisst Bildung. Die Civilisation begnügt sich mit den Resultaten der Bildung; sie ist in der Fülle des Reichthums arm, in der Opulenz des Geniessens blasirt. Nachdem Buckle beklagt hat, wie wenig bisher die reiche und immer wachsende „Masse von Thatsachen“ benutzt worden sei, giebt er den Grund, „den eigenthümlich unglücklichen Umstand“ an, der 4*

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/60>, abgerufen am 21.11.2024.