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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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Formen hat die Geschichte ein rastlos sich weiter bewegendes Leben.
Denn diese Formen sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, in denen wir
leiblich und geistig werden, was wir sind, kraft deren wir uns über
die klägliche Oede und Dürftigkeit unseres atomistischen Ichseins er-
heben, gebend und empfangend um so reicher werden, je mehr wir
uns binden und verpflichten. Diess sind Bereiche, innerhalb deren
Gesetze von gar anderer Art und Energie, als die neue Wissenschaft
sie sucht, ihre Stelle haben und ihre Macht üben. Diese sittlichen
Mächte, wie man sie schön genannt hat, sind in vorzüglichem Maasse
zugleich Factoren und Producte des geschichtlichen Lebens; und rast-
los werdend bestimmen sie mit ihrem Gewordensein diejenigen, die
die Träger ihrer Verwirklichungen sind, erheben sie über sich selbst.
In der Gemeinschaft der Familie, des Staates, des Volkes u. s. w. hat
der Einzelne über die enge Schranke seines ephemeren Ich hinaus sich
erhoben, um, wenn ich so sagen darf, aus dem Ich der Familie, des
Volkes, des Staates zu denken und zu handeln. Und in dieser Erhe-
bung und ungestörten Betheiligung an dem Wirken der sittlichen
Mächte je nach ihrer Art und Pflicht, nicht in der unbeschränkten
und ungebundenen Independenz des Individuums liegt das wahre Wesen
der Freiheit. Sie ist nichts ohne die sittlichen Mächte, sie ist ohne
sie unsittlich, eine blosse Locomobile.

Freilich von diesen sittlichen Mächten denkt Buckle ausserordent-
lich gering; er sieht von Kirche und Staat nichts als Bevormundung
und Uebergriffe; ihm sind Recht und Gesetz nur Schranken und Läh-
mungen; die Consequenz seiner Anschauungsweise würde sein, dass
auch das Kind nicht sowohl auf die Pflege und Liebe der Aeltern,
auf die Zucht und Führung der Lehrer angewiesen, als vielmehr ein
Stück souverainer Freiheit wäre.

Zu einem so ausserordentlich rohen Freiheitsbegriff kommt Buckle,
weil er es versäumt, den Arbeitern in der geschichtlichen Arbeit
die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, weil er nur an das mas-
sige Capital Civilisation, nicht an das immer neue Erwerben, das das
Wesen der Bildung ist, denkt, weil er nicht sieht oder nicht sehen
will, dass in jenem verschwindend kleinen x der ganze und der einzige
Werth der Persönlichkeit liegt, ein Werth, der sich nicht nach dem
Umfang der Wirkungssphäre oder dem Glanz der Erfolge bemisst,

Formen hat die Geschichte ein rastlos sich weiter bewegendes Leben.
Denn diese Formen sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, in denen wir
leiblich und geistig werden, was wir sind, kraft deren wir uns über
die klägliche Oede und Dürftigkeit unseres atomistischen Ichseins er-
heben, gebend und empfangend um so reicher werden, je mehr wir
uns binden und verpflichten. Diess sind Bereiche, innerhalb deren
Gesetze von gar anderer Art und Energie, als die neue Wissenschaft
sie sucht, ihre Stelle haben und ihre Macht üben. Diese sittlichen
Mächte, wie man sie schön genannt hat, sind in vorzüglichem Maasse
zugleich Factoren und Producte des geschichtlichen Lebens; und rast-
los werdend bestimmen sie mit ihrem Gewordensein diejenigen, die
die Träger ihrer Verwirklichungen sind, erheben sie über sich selbst.
In der Gemeinschaft der Familie, des Staates, des Volkes u. s. w. hat
der Einzelne über die enge Schranke seines ephemeren Ich hinaus sich
erhoben, um, wenn ich so sagen darf, aus dem Ich der Familie, des
Volkes, des Staates zu denken und zu handeln. Und in dieser Erhe-
bung und ungestörten Betheiligung an dem Wirken der sittlichen
Mächte je nach ihrer Art und Pflicht, nicht in der unbeschränkten
und ungebundenen Independenz des Individuums liegt das wahre Wesen
der Freiheit. Sie ist nichts ohne die sittlichen Mächte, sie ist ohne
sie unsittlich, eine blosse Locomobile.

Freilich von diesen sittlichen Mächten denkt Buckle ausserordent-
lich gering; er sieht von Kirche und Staat nichts als Bevormundung
und Uebergriffe; ihm sind Recht und Gesetz nur Schranken und Läh-
mungen; die Consequenz seiner Anschauungsweise würde sein, dass
auch das Kind nicht sowohl auf die Pflege und Liebe der Aeltern,
auf die Zucht und Führung der Lehrer angewiesen, als vielmehr ein
Stück souverainer Freiheit wäre.

Zu einem so ausserordentlich rohen Freiheitsbegriff kommt Buckle,
weil er es versäumt, den Arbeitern in der geschichtlichen Arbeit
die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, weil er nur an das mas-
sige Capital Civilisation, nicht an das immer neue Erwerben, das das
Wesen der Bildung ist, denkt, weil er nicht sieht oder nicht sehen
will, dass in jenem verschwindend kleinen x der ganze und der einzige
Werth der Persönlichkeit liegt, ein Werth, der sich nicht nach dem
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[58/0067] Formen hat die Geschichte ein rastlos sich weiter bewegendes Leben. Denn diese Formen sind die sittlichen Gemeinsamkeiten, in denen wir leiblich und geistig werden, was wir sind, kraft deren wir uns über die klägliche Oede und Dürftigkeit unseres atomistischen Ichseins er- heben, gebend und empfangend um so reicher werden, je mehr wir uns binden und verpflichten. Diess sind Bereiche, innerhalb deren Gesetze von gar anderer Art und Energie, als die neue Wissenschaft sie sucht, ihre Stelle haben und ihre Macht üben. Diese sittlichen Mächte, wie man sie schön genannt hat, sind in vorzüglichem Maasse zugleich Factoren und Producte des geschichtlichen Lebens; und rast- los werdend bestimmen sie mit ihrem Gewordensein diejenigen, die die Träger ihrer Verwirklichungen sind, erheben sie über sich selbst. In der Gemeinschaft der Familie, des Staates, des Volkes u. s. w. hat der Einzelne über die enge Schranke seines ephemeren Ich hinaus sich erhoben, um, wenn ich so sagen darf, aus dem Ich der Familie, des Volkes, des Staates zu denken und zu handeln. Und in dieser Erhe- bung und ungestörten Betheiligung an dem Wirken der sittlichen Mächte je nach ihrer Art und Pflicht, nicht in der unbeschränkten und ungebundenen Independenz des Individuums liegt das wahre Wesen der Freiheit. Sie ist nichts ohne die sittlichen Mächte, sie ist ohne sie unsittlich, eine blosse Locomobile. Freilich von diesen sittlichen Mächten denkt Buckle ausserordent- lich gering; er sieht von Kirche und Staat nichts als Bevormundung und Uebergriffe; ihm sind Recht und Gesetz nur Schranken und Läh- mungen; die Consequenz seiner Anschauungsweise würde sein, dass auch das Kind nicht sowohl auf die Pflege und Liebe der Aeltern, auf die Zucht und Führung der Lehrer angewiesen, als vielmehr ein Stück souverainer Freiheit wäre. Zu einem so ausserordentlich rohen Freiheitsbegriff kommt Buckle, weil er es versäumt, den Arbeitern in der geschichtlichen Arbeit die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, weil er nur an das mas- sige Capital Civilisation, nicht an das immer neue Erwerben, das das Wesen der Bildung ist, denkt, weil er nicht sieht oder nicht sehen will, dass in jenem verschwindend kleinen x der ganze und der einzige Werth der Persönlichkeit liegt, ein Werth, der sich nicht nach dem Umfang der Wirkungssphäre oder dem Glanz der Erfolge bemisst,

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 58. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/67>, abgerufen am 21.11.2024.