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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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aufgefasst worden; auf die Frage, wie unsere Kaiser bei ihren Rom-
fahrten Tausende von Menschen und Pferden, wenn sie über die Alpen
stiegen, dort verpflegten, auf die Frage, wie sich nach der Revolution,
die Alexander der Grosse über Asien gebracht hat, der Handel des
Mittelmeers gestaltete, geben uns die Quellen keine Auskunft.

Wie oberflächlich, wie unzuverlässig unsere Kunde von früherer Zeit,
wie mit Nothwendigkeit lückenhaft und auf einzelne Punkte beschränkt
die Anschauung ist, die wir von derselben noch gewinnen können, wer-
den wir inne, wenn unser Studium uns zu Zeiten führt, aus welchen
die Archive mehr als blosse "Urkunden" von abgeschlossenen Rechtsge-
schäften, aus welchen sie gesandschaftliche Berichte, Berichte der Be-
hörden, Geschäftsacten aller Art darbieten. Und weiter, wie lebhaft
tritt da der Unterschied zwischen den "Auffassungen" der fremden Ge-
sandten oder der heimischen Behörden und den "Ueberresten" aus dem
geschäftlichen Verlauf, aus den Erwägungen her und hin, aus den Pro-
tokollen der Verhandlungen u. s. w. hervor. Freilich diese Geschäfts-
acten bieten in der Regel nicht, wie jene Relationen, eine schon ge-
formte Auffassung, ein erstes historisches Bild dessen, was soeben ge-
schehen ist; aber sie sind Ueberreste dessen, was da geschehen ist, sie
sind das, was von dem Geschäft und aus seinem Verlauf noch unmittel-
bar vorliegt. Und als Geschäft -- wenn ich den Ausdruck in so wei-
tem Umfang brauchen darf -- in dem breiten und tausendfach beding-
ten und bedingendem Nebeneinander der Gegenwart vollziehen sich die
Dinge, die wir nachmals nach ihrem Nacheinander als Geschichte auf-
fassen, -- also in ganz anderer Richtung auffassen, als die war, in der
sie sich vollzogen, und die sie in dem Wollen und Thun derer hatten,
durch welche sie sich vollzogen. So dass es nicht paradox ist zu fra-
gen, wie aus den Geschäften Geschichte wird, und was mit dieser
Uebertragung gleichsam in ein anderes Medium theils hinzugethan wird,
theils verloren geht.

Zum Schluss mag es gestattet sein, noch einen Punkt zu berühren.
Ich habe an einer anderen Stelle den Anspruch zurückzuweisen ver-
sucht, der an unsere Wissenschaft von Seiten derer gemacht wird, de-
nen die naturwissenschaftliche Methode die einzig wissenschaftliche ist,
und welche meinen, durch die Anwendung derselben müsse die Ge-
schichte zum Rang einer Wissenschaft erhoben werden.

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aufgefasst worden; auf die Frage, wie unsere Kaiser bei ihren Rom-
fahrten Tausende von Menschen und Pferden, wenn sie über die Alpen
stiegen, dort verpflegten, auf die Frage, wie sich nach der Revolution,
die Alexander der Grosse über Asien gebracht hat, der Handel des
Mittelmeers gestaltete, geben uns die Quellen keine Auskunft.

Wie oberflächlich, wie unzuverlässig unsere Kunde von früherer Zeit,
wie mit Nothwendigkeit lückenhaft und auf einzelne Punkte beschränkt
die Anschauung ist, die wir von derselben noch gewinnen können, wer-
den wir inne, wenn unser Studium uns zu Zeiten führt, aus welchen
die Archive mehr als blosse „Urkunden“ von abgeschlossenen Rechtsge-
schäften, aus welchen sie gesandschaftliche Berichte, Berichte der Be-
hörden, Geschäftsacten aller Art darbieten. Und weiter, wie lebhaft
tritt da der Unterschied zwischen den „Auffassungen“ der fremden Ge-
sandten oder der heimischen Behörden und den „Ueberresten“ aus dem
geschäftlichen Verlauf, aus den Erwägungen her und hin, aus den Pro-
tokollen der Verhandlungen u. s. w. hervor. Freilich diese Geschäfts-
acten bieten in der Regel nicht, wie jene Relationen, eine schon ge-
formte Auffassung, ein erstes historisches Bild dessen, was soeben ge-
schehen ist; aber sie sind Ueberreste dessen, was da geschehen ist, sie
sind das, was von dem Geschäft und aus seinem Verlauf noch unmittel-
bar vorliegt. Und als Geschäft — wenn ich den Ausdruck in so wei-
tem Umfang brauchen darf — in dem breiten und tausendfach beding-
ten und bedingendem Nebeneinander der Gegenwart vollziehen sich die
Dinge, die wir nachmals nach ihrem Nacheinander als Geschichte auf-
fassen, — also in ganz anderer Richtung auffassen, als die war, in der
sie sich vollzogen, und die sie in dem Wollen und Thun derer hatten,
durch welche sie sich vollzogen. So dass es nicht paradox ist zu fra-
gen, wie aus den Geschäften Geschichte wird, und was mit dieser
Uebertragung gleichsam in ein anderes Medium theils hinzugethan wird,
theils verloren geht.

Zum Schluss mag es gestattet sein, noch einen Punkt zu berühren.
Ich habe an einer anderen Stelle den Anspruch zurückzuweisen ver-
sucht, der an unsere Wissenschaft von Seiten derer gemacht wird, de-
nen die naturwissenschaftliche Methode die einzig wissenschaftliche ist,
und welche meinen, durch die Anwendung derselben müsse die Ge-
schichte zum Rang einer Wissenschaft erhoben werden.

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[81/0090] aufgefasst worden; auf die Frage, wie unsere Kaiser bei ihren Rom- fahrten Tausende von Menschen und Pferden, wenn sie über die Alpen stiegen, dort verpflegten, auf die Frage, wie sich nach der Revolution, die Alexander der Grosse über Asien gebracht hat, der Handel des Mittelmeers gestaltete, geben uns die Quellen keine Auskunft. Wie oberflächlich, wie unzuverlässig unsere Kunde von früherer Zeit, wie mit Nothwendigkeit lückenhaft und auf einzelne Punkte beschränkt die Anschauung ist, die wir von derselben noch gewinnen können, wer- den wir inne, wenn unser Studium uns zu Zeiten führt, aus welchen die Archive mehr als blosse „Urkunden“ von abgeschlossenen Rechtsge- schäften, aus welchen sie gesandschaftliche Berichte, Berichte der Be- hörden, Geschäftsacten aller Art darbieten. Und weiter, wie lebhaft tritt da der Unterschied zwischen den „Auffassungen“ der fremden Ge- sandten oder der heimischen Behörden und den „Ueberresten“ aus dem geschäftlichen Verlauf, aus den Erwägungen her und hin, aus den Pro- tokollen der Verhandlungen u. s. w. hervor. Freilich diese Geschäfts- acten bieten in der Regel nicht, wie jene Relationen, eine schon ge- formte Auffassung, ein erstes historisches Bild dessen, was soeben ge- schehen ist; aber sie sind Ueberreste dessen, was da geschehen ist, sie sind das, was von dem Geschäft und aus seinem Verlauf noch unmittel- bar vorliegt. Und als Geschäft — wenn ich den Ausdruck in so wei- tem Umfang brauchen darf — in dem breiten und tausendfach beding- ten und bedingendem Nebeneinander der Gegenwart vollziehen sich die Dinge, die wir nachmals nach ihrem Nacheinander als Geschichte auf- fassen, — also in ganz anderer Richtung auffassen, als die war, in der sie sich vollzogen, und die sie in dem Wollen und Thun derer hatten, durch welche sie sich vollzogen. So dass es nicht paradox ist zu fra- gen, wie aus den Geschäften Geschichte wird, und was mit dieser Uebertragung gleichsam in ein anderes Medium theils hinzugethan wird, theils verloren geht. Zum Schluss mag es gestattet sein, noch einen Punkt zu berühren. Ich habe an einer anderen Stelle den Anspruch zurückzuweisen ver- sucht, der an unsere Wissenschaft von Seiten derer gemacht wird, de- nen die naturwissenschaftliche Methode die einzig wissenschaftliche ist, und welche meinen, durch die Anwendung derselben müsse die Ge- schichte zum Rang einer Wissenschaft erhoben werden. 6

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/90>, abgerufen am 21.11.2024.