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Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868.

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und ihrer Deutschen Zeitgenossen Werken lag ein ganz anderes, das
eigentliche Material der Forschung vor; ein Material freilich, mit dem ins
Reine zu kommen der Forscher ein Rüstzeug besonderer Art brauchte;
er musste die Technik des Malens kennen, um die der verschiedenen
Maler, ihre Tonfarbe, ihr Helldunkel, ihren Pinselstrich zu unterschei-
den; er musste feststellen, wie in Albrecht Dürer's Auge sich die
menschliche Gestalt darstellte, um nachweisen zu können, ob jenes Cru-
cifix von seiner Hand ist; er musste einen so zu sagen gelehrten Ap-
parat von Radirungen, Handzeichnungen u. s. w. herbeiziehen, um end-
lich zu entscheiden, ob jener bedeutende Portraitkopf von Leonardo da
Vinci oder von Holbein ist; er musste die Anschauungsweise jener Zeit,
den Bereich ihrer allgemeinen Kenntniss, ihre kirchliche und profane
Gemeinüberzeugung, ihre locale und Tagesgeschichte gegenwärtig haben,
um Das, was in den Kunstwerken dargestellt, was etwa in Nebendingen
angedeutet ist, richtig deuten, die tiefere oder flachere Auffassung oder
Intention nicht bloss ästhetisch empfinden, sondern überzeugend nach-
weisen zu können u. s. w.

Wie hier, so überall. Nur die tiefe und vielseitige technische und
Sachkenntniss, je nachdem es die Kunst, das Recht, den Handel, das
Agrarwesen, oder auch den Staat und die Politik geschichtlich zu er-
forschen gilt, wird den Forschenden in den Stand setzen, die für den
gegebenen Fall geforderten Methoden zu finden und mit ihnen zu ar-
beiten; eben so wie in den Naturwissenschaften immer neue Methoden
gefunden werden, um der stummen Natur ihre Geheimnisse zu entlocken.

Alle solche Methoden, die in dem Bereich der historischen Studien
in Anwendung kommen, bewegen sich innerhalb derselben Peripherie,
haben denselben bestimmenden Mittelpunkt. Sie in ihrem gemeinsamen
Gedanken zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln
und so, nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des
historischen Forschens und Wissens festzustellen, das ist die Aufgabe
der Historik.


Berlin, Druck von Gebr. Unger (C. Unger), Königl. Hofbuchdrucker.

und ihrer Deutschen Zeitgenossen Werken lag ein ganz anderes, das
eigentliche Material der Forschung vor; ein Material freilich, mit dem ins
Reine zu kommen der Forscher ein Rüstzeug besonderer Art brauchte;
er musste die Technik des Malens kennen, um die der verschiedenen
Maler, ihre Tonfarbe, ihr Helldunkel, ihren Pinselstrich zu unterschei-
den; er musste feststellen, wie in Albrecht Dürer’s Auge sich die
menschliche Gestalt darstellte, um nachweisen zu können, ob jenes Cru-
cifix von seiner Hand ist; er musste einen so zu sagen gelehrten Ap-
parat von Radirungen, Handzeichnungen u. s. w. herbeiziehen, um end-
lich zu entscheiden, ob jener bedeutende Portraitkopf von Leonardo da
Vinci oder von Holbein ist; er musste die Anschauungsweise jener Zeit,
den Bereich ihrer allgemeinen Kenntniss, ihre kirchliche und profane
Gemeinüberzeugung, ihre locale und Tagesgeschichte gegenwärtig haben,
um Das, was in den Kunstwerken dargestellt, was etwa in Nebendingen
angedeutet ist, richtig deuten, die tiefere oder flachere Auffassung oder
Intention nicht bloss ästhetisch empfinden, sondern überzeugend nach-
weisen zu können u. s. w.

Wie hier, so überall. Nur die tiefe und vielseitige technische und
Sachkenntniss, je nachdem es die Kunst, das Recht, den Handel, das
Agrarwesen, oder auch den Staat und die Politik geschichtlich zu er-
forschen gilt, wird den Forschenden in den Stand setzen, die für den
gegebenen Fall geforderten Methoden zu finden und mit ihnen zu ar-
beiten; eben so wie in den Naturwissenschaften immer neue Methoden
gefunden werden, um der stummen Natur ihre Geheimnisse zu entlocken.

Alle solche Methoden, die in dem Bereich der historischen Studien
in Anwendung kommen, bewegen sich innerhalb derselben Peripherie,
haben denselben bestimmenden Mittelpunkt. Sie in ihrem gemeinsamen
Gedanken zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln
und so, nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des
historischen Forschens und Wissens festzustellen, das ist die Aufgabe
der Historik.


Berlin, Druck von Gebr. Unger (C. Unger), Königl. Hofbuchdrucker.

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[84/0093] und ihrer Deutschen Zeitgenossen Werken lag ein ganz anderes, das eigentliche Material der Forschung vor; ein Material freilich, mit dem ins Reine zu kommen der Forscher ein Rüstzeug besonderer Art brauchte; er musste die Technik des Malens kennen, um die der verschiedenen Maler, ihre Tonfarbe, ihr Helldunkel, ihren Pinselstrich zu unterschei- den; er musste feststellen, wie in Albrecht Dürer’s Auge sich die menschliche Gestalt darstellte, um nachweisen zu können, ob jenes Cru- cifix von seiner Hand ist; er musste einen so zu sagen gelehrten Ap- parat von Radirungen, Handzeichnungen u. s. w. herbeiziehen, um end- lich zu entscheiden, ob jener bedeutende Portraitkopf von Leonardo da Vinci oder von Holbein ist; er musste die Anschauungsweise jener Zeit, den Bereich ihrer allgemeinen Kenntniss, ihre kirchliche und profane Gemeinüberzeugung, ihre locale und Tagesgeschichte gegenwärtig haben, um Das, was in den Kunstwerken dargestellt, was etwa in Nebendingen angedeutet ist, richtig deuten, die tiefere oder flachere Auffassung oder Intention nicht bloss ästhetisch empfinden, sondern überzeugend nach- weisen zu können u. s. w. Wie hier, so überall. Nur die tiefe und vielseitige technische und Sachkenntniss, je nachdem es die Kunst, das Recht, den Handel, das Agrarwesen, oder auch den Staat und die Politik geschichtlich zu er- forschen gilt, wird den Forschenden in den Stand setzen, die für den gegebenen Fall geforderten Methoden zu finden und mit ihnen zu ar- beiten; eben so wie in den Naturwissenschaften immer neue Methoden gefunden werden, um der stummen Natur ihre Geheimnisse zu entlocken. Alle solche Methoden, die in dem Bereich der historischen Studien in Anwendung kommen, bewegen sich innerhalb derselben Peripherie, haben denselben bestimmenden Mittelpunkt. Sie in ihrem gemeinsamen Gedanken zusammenzufassen, ihr System, ihre Theorie zu entwickeln und so, nicht die Gesetze der Geschichte, wohl aber die Gesetze des historischen Forschens und Wissens festzustellen, das ist die Aufgabe der Historik. Berlin, Druck von Gebr. Unger (C. Unger), Königl. Hofbuchdrucker.

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Zitationshilfe: Droysen, Johann Gustav: Grundriss der Historik. Leipzig, 1868, S. 84. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/droysen_historik_1868/93>, abgerufen am 21.11.2024.