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Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886.

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solchen, welche wenig stolz sind und wenig andere Erobe-
rungen machen können. Es ist ihm nichts als eine mora-
lische Mode und der Mitleidige nur eine spezielle Art
Egoist.

Nietzsche hat ja tausendmal Recht, wenn er die intellek-
tuelle Leichtfertigkeit tadelt, mit welcher gewöhnlich Wohl-
thaten erwiesen werden, und, mit Hinblick auf Comte's Lehre,
vor den Gefahren des zu weit getriebenen Altruismus warnt.
Doch unterscheidet Nietzsche nicht zwischen dem plumpen, be-
leidigenden Zufahren derjenigen, die zu keiner höheren Ge-
fühlskultur gelangt, ihren Jmpulsen folgen, und den edlen
Formen des wahrhaften Mitgefühls. Das ächte Mitgefühl,
dessen nur der wahrhaft sittliche, phantasievolle und verstän-
dige Mensch fähig ist, will nicht Gewalt üben, will nicht be-
leidigen. Wie fast in jedem Punkte widerspricht sich Nietzsche
auch in diesem. Jn "Die fröhliche Wissenschaft" heißt es:
(Nr. 74) "Was ist das Menschlichste? Jemandem Scham
ersparen." Aber ist Jemandem Scham ersparen nicht auch eine
Form des Mitgefühls? Der tiefste Grund, weshalb Nietzsche
das Mitleid so geringschätzig behandelt, ist das Bewußtsein,
daß es Fälle gibt, wo das Wohl des Nächsten einem höheren
Zwecke geopfert werden muß. So heißt es in dem Ab-
schnitte "Auch über den Nächsten hinweg" in "Morgenröthe"*):
"das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, daß wir
die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen
für den Andern in's Auge fassen und uns darnach enscheiden?
Dies ist nur eine enge und spießbürgerliche Moral, wenn
es auch eine Moral sein mag. Aber höher und freier scheint
es mir gedacht, auch über diese nächsten Folgen für den An-
dern hinwegzusehen und entferntere Zwecke, auch unter
Umständen durch das Leid des Anderen, zu fördern, zum

*) p. 142 (Nr. 146).

ſolchen, welche wenig ſtolz ſind und wenig andere Erobe-
rungen machen können. Es iſt ihm nichts als eine mora-
liſche Mode und der Mitleidige nur eine ſpezielle Art
Egoiſt.

Nietzſche hat ja tauſendmal Recht, wenn er die intellek-
tuelle Leichtfertigkeit tadelt, mit welcher gewöhnlich Wohl-
thaten erwieſen werden, und, mit Hinblick auf Comte’s Lehre,
vor den Gefahren des zu weit getriebenen Altruismus warnt.
Doch unterſcheidet Nietzſche nicht zwiſchen dem plumpen, be-
leidigenden Zufahren derjenigen, die zu keiner höheren Ge-
fühlskultur gelangt, ihren Jmpulſen folgen, und den edlen
Formen des wahrhaften Mitgefühls. Das ächte Mitgefühl,
deſſen nur der wahrhaft ſittliche, phantaſievolle und verſtän-
dige Menſch fähig iſt, will nicht Gewalt üben, will nicht be-
leidigen. Wie faſt in jedem Punkte widerſpricht ſich Nietzſche
auch in dieſem. Jn „Die fröhliche Wiſſenſchaft“ heißt es:
(Nr. 74) „Was iſt das Menſchlichſte? Jemandem Scham
erſparen.“ Aber iſt Jemandem Scham erſparen nicht auch eine
Form des Mitgefühls? Der tiefſte Grund, weshalb Nietzſche
das Mitleid ſo geringſchätzig behandelt, iſt das Bewußtſein,
daß es Fälle gibt, wo das Wohl des Nächſten einem höheren
Zwecke geopfert werden muß. So heißt es in dem Ab-
ſchnitte „Auch über den Nächſten hinweg“ in „Morgenröthe“*):
„das Weſen des wahrhaft Moraliſchen liege darin, daß wir
die nächſten und unmittelbarſten Folgen unſerer Handlungen
für den Andern in’s Auge faſſen und uns darnach enſcheiden?
Dies iſt nur eine enge und ſpießbürgerliche Moral, wenn
es auch eine Moral ſein mag. Aber höher und freier ſcheint
es mir gedacht, auch über dieſe nächſten Folgen für den An-
dern hinwegzuſehen und entferntere Zwecke, auch unter
Umſtänden durch das Leid des Anderen, zu fördern, zum

*) p. 142 (Nr. 146).
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[53/0062] ſolchen, welche wenig ſtolz ſind und wenig andere Erobe- rungen machen können. Es iſt ihm nichts als eine mora- liſche Mode und der Mitleidige nur eine ſpezielle Art Egoiſt. Nietzſche hat ja tauſendmal Recht, wenn er die intellek- tuelle Leichtfertigkeit tadelt, mit welcher gewöhnlich Wohl- thaten erwieſen werden, und, mit Hinblick auf Comte’s Lehre, vor den Gefahren des zu weit getriebenen Altruismus warnt. Doch unterſcheidet Nietzſche nicht zwiſchen dem plumpen, be- leidigenden Zufahren derjenigen, die zu keiner höheren Ge- fühlskultur gelangt, ihren Jmpulſen folgen, und den edlen Formen des wahrhaften Mitgefühls. Das ächte Mitgefühl, deſſen nur der wahrhaft ſittliche, phantaſievolle und verſtän- dige Menſch fähig iſt, will nicht Gewalt üben, will nicht be- leidigen. Wie faſt in jedem Punkte widerſpricht ſich Nietzſche auch in dieſem. Jn „Die fröhliche Wiſſenſchaft“ heißt es: (Nr. 74) „Was iſt das Menſchlichſte? Jemandem Scham erſparen.“ Aber iſt Jemandem Scham erſparen nicht auch eine Form des Mitgefühls? Der tiefſte Grund, weshalb Nietzſche das Mitleid ſo geringſchätzig behandelt, iſt das Bewußtſein, daß es Fälle gibt, wo das Wohl des Nächſten einem höheren Zwecke geopfert werden muß. So heißt es in dem Ab- ſchnitte „Auch über den Nächſten hinweg“ in „Morgenröthe“ *): „das Weſen des wahrhaft Moraliſchen liege darin, daß wir die nächſten und unmittelbarſten Folgen unſerer Handlungen für den Andern in’s Auge faſſen und uns darnach enſcheiden? Dies iſt nur eine enge und ſpießbürgerliche Moral, wenn es auch eine Moral ſein mag. Aber höher und freier ſcheint es mir gedacht, auch über dieſe nächſten Folgen für den An- dern hinwegzuſehen und entferntere Zwecke, auch unter Umſtänden durch das Leid des Anderen, zu fördern, zum *) p. 142 (Nr. 146).

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Zitationshilfe: Druskowitz, Helene von: Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Heidelberg, 1886, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/druskowitz_religionsersatz_1886/62>, abgerufen am 24.11.2024.