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Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885.

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man die je 92 Reihen nicht alle zugleich in Rechnung zieht,
sondern in einige Fraktionen teilt, d. h. also, wenn man
Versuche zusammenfasst, die sich zeitlich näher stehen und bei
denen eine grössere Ähnlichkeit der Versuchsumstände voraus-
gesetzt werden kann.

Man darf natürlich aus diesen Zahlen nicht schliessen,
dass ein Einfluss der allmählich zunehmenden geistigen Ab-
spannung während der -- je etwa 20 Minuten dauernden --
Versuche nicht stattgefunden habe.

Man muss nur sagen, dass der vorauszusetzende Einfluss
der letzteren auf die Zahlen bei weitem übertroffen wird
durch eine andere Tendenz, auf die man a priori nicht so
leicht gekommen wäre, nämlich durch eine Tendenz, auf ver-
hältnismässig niedrige Werte verhältnismässig hohe folgen zu
zu lassen und umgekehrt. Es scheint eine Art periodischer
Oscillation der geistigen Empfänglichkeit oder der Aufmerk-
samkeit zu bestehen, bei der dann die zunehmende Ermüdung
sich so äussern würde, dass die Schwankungen um eine all-
mählich sich verschiebende Mittellage geschehen*.


* Wenn es einmal von Interesse werden sollte, könnte man auch
noch versuchen, die verschiedenen Effekte jener Tendenz in verschiedenen
Fällen numerisch näher zu präcisieren. Ein Mass nämlich für den Ein-
fluss der zahlreichen zufälligen Störungen, denen das Auswendiglernen
von einem Tag zum anderen ausgesetzt ist, hat man in den wahrschein-
lichen Beobachtungsfehlern der für Reihengruppen erhaltenen Zahlen.
Wäre nun das Lernen der einzelnen Reihen im allgemeinen nur den-
selben oder ähnlichen Schwankungen der Umstände ausgesetzt, wie sie
von Versuch zu Versuch stattfinden, so müsste, nach den Grundsätzen der
Fehlertheorie, ein aus den Einzelwerten direkt berechneter wahrschein-
licher Beobachtungsfehler sich zu dem eben erwähnten verhalten wie
1 : [Formel 1] wo n die Anzahl der zu einem Versuch zusammengenommenen
Einzelreihen bezeichnet. Machen sich aber bei dem Lernen dieser Einzel-
reihen, wie es in unserem Falle scheint, noch besondere Einflüsse geltend,
welche die Werte stärker von einander treiben als es die sonstigen Schwan-

man die je 92 Reihen nicht alle zugleich in Rechnung zieht,
sondern in einige Fraktionen teilt, d. h. also, wenn man
Versuche zusammenfaſst, die sich zeitlich näher stehen und bei
denen eine gröſsere Ähnlichkeit der Versuchsumstände voraus-
gesetzt werden kann.

Man darf natürlich aus diesen Zahlen nicht schlieſsen,
daſs ein Einfluſs der allmählich zunehmenden geistigen Ab-
spannung während der — je etwa 20 Minuten dauernden —
Versuche nicht stattgefunden habe.

Man muſs nur sagen, daſs der vorauszusetzende Einfluſs
der letzteren auf die Zahlen bei weitem übertroffen wird
durch eine andere Tendenz, auf die man a priori nicht so
leicht gekommen wäre, nämlich durch eine Tendenz, auf ver-
hältnismäſsig niedrige Werte verhältnismäſsig hohe folgen zu
zu lassen und umgekehrt. Es scheint eine Art periodischer
Oscillation der geistigen Empfänglichkeit oder der Aufmerk-
samkeit zu bestehen, bei der dann die zunehmende Ermüdung
sich so äuſsern würde, daſs die Schwankungen um eine all-
mählich sich verschiebende Mittellage geschehen*.


* Wenn es einmal von Interesse werden sollte, könnte man auch
noch versuchen, die verschiedenen Effekte jener Tendenz in verschiedenen
Fällen numerisch näher zu präcisieren. Ein Maſs nämlich für den Ein-
fluſs der zahlreichen zufälligen Störungen, denen das Auswendiglernen
von einem Tag zum anderen ausgesetzt ist, hat man in den wahrschein-
lichen Beobachtungsfehlern der für Reihengruppen erhaltenen Zahlen.
Wäre nun das Lernen der einzelnen Reihen im allgemeinen nur den-
selben oder ähnlichen Schwankungen der Umstände ausgesetzt, wie sie
von Versuch zu Versuch stattfinden, so müſste, nach den Grundsätzen der
Fehlertheorie, ein aus den Einzelwerten direkt berechneter wahrschein-
licher Beobachtungsfehler sich zu dem eben erwähnten verhalten wie
1 : [Formel 1] wo n die Anzahl der zu einem Versuch zusammengenommenen
Einzelreihen bezeichnet. Machen sich aber bei dem Lernen dieser Einzel-
reihen, wie es in unserem Falle scheint, noch besondere Einflüsse geltend,
welche die Werte stärker von einander treiben als es die sonstigen Schwan-
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[60/0076] man die je 92 Reihen nicht alle zugleich in Rechnung zieht, sondern in einige Fraktionen teilt, d. h. also, wenn man Versuche zusammenfaſst, die sich zeitlich näher stehen und bei denen eine gröſsere Ähnlichkeit der Versuchsumstände voraus- gesetzt werden kann. Man darf natürlich aus diesen Zahlen nicht schlieſsen, daſs ein Einfluſs der allmählich zunehmenden geistigen Ab- spannung während der — je etwa 20 Minuten dauernden — Versuche nicht stattgefunden habe. Man muſs nur sagen, daſs der vorauszusetzende Einfluſs der letzteren auf die Zahlen bei weitem übertroffen wird durch eine andere Tendenz, auf die man a priori nicht so leicht gekommen wäre, nämlich durch eine Tendenz, auf ver- hältnismäſsig niedrige Werte verhältnismäſsig hohe folgen zu zu lassen und umgekehrt. Es scheint eine Art periodischer Oscillation der geistigen Empfänglichkeit oder der Aufmerk- samkeit zu bestehen, bei der dann die zunehmende Ermüdung sich so äuſsern würde, daſs die Schwankungen um eine all- mählich sich verschiebende Mittellage geschehen *. * Wenn es einmal von Interesse werden sollte, könnte man auch noch versuchen, die verschiedenen Effekte jener Tendenz in verschiedenen Fällen numerisch näher zu präcisieren. Ein Maſs nämlich für den Ein- fluſs der zahlreichen zufälligen Störungen, denen das Auswendiglernen von einem Tag zum anderen ausgesetzt ist, hat man in den wahrschein- lichen Beobachtungsfehlern der für Reihengruppen erhaltenen Zahlen. Wäre nun das Lernen der einzelnen Reihen im allgemeinen nur den- selben oder ähnlichen Schwankungen der Umstände ausgesetzt, wie sie von Versuch zu Versuch stattfinden, so müſste, nach den Grundsätzen der Fehlertheorie, ein aus den Einzelwerten direkt berechneter wahrschein- licher Beobachtungsfehler sich zu dem eben erwähnten verhalten wie 1 : [FORMEL] wo n die Anzahl der zu einem Versuch zusammengenommenen Einzelreihen bezeichnet. Machen sich aber bei dem Lernen dieser Einzel- reihen, wie es in unserem Falle scheint, noch besondere Einflüsse geltend, welche die Werte stärker von einander treiben als es die sonstigen Schwan-

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Zitationshilfe: Ebbinghaus, Hermann: Über das Gedächtnis. Leipzig, 1885, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebbinghaus_gedaechtnis_1885/76>, abgerufen am 21.05.2024.