"Das käme auf einen Versuch an!" rief Phanes. "Laß den König in den Schloßhof treten und die Gefang- nen und Verurtheilten an ihm vorüberführen, dann wird sich erweisen, ob er ein Mann ist oder ein Feigling."
"So sei es!" rief Kambyses. "Jch werde mich ver- bergen und ihn ungesehen beobachten. Du begleitest mich, Phanes, und nennst mir den Namen und Stand der ein- zelnen Gefangenen!"
Am Morgen des nächsten Tages begab sich der Athe- ner mit dem Könige auf den Altan, welcher den riesen- großen, mit Bäumen bepflanzten Schloßhof umgab. Dichtes Blumengebüsch verbarg die Lauscher, welche jede Bewegung der Menschen unter ihnen erkennen und jedes Wort der- selben verstehen konnten. Psamtik stand, von einigen seiner früheren Genossen umgeben, an einen Palmenbaum gelehnt und schaute finster zu Boden, während seine Tochter mit dem Kinde Neithoteph's und andern Jungfrauen in Skla- venkleidern, gefüllte Wasserkannen tragend, in den Hof schritt. Sobald die Mädchen den König erblickten, erhoben sie ein lautes Klagegeschrei, welches Psamtik aus seinen Träumen weckte. Nachdem er die Jammernden erkannt hatte, beugte er sein Antlitz zur Erde nieder, richtete sich aber bald wieder auf und fragte seine Tochter, für wen sie das Wasser trage? Als er vernommen hatte, daß sie Phanes Sklavendienste leisten müsse, erbleichte er, nickte mit dem Kopfe und rief den Mädchen zu: "Geht und laßt mich allein!"
Wenige Minuten später traten die Gefangenen, mit Stricken am Halse und Zäumen im Munde, von persischen Wachen geführt, in den Hof 113). Dem Zuge voran ging der kleine Ramses, welcher seinem Vater die Händchen entgegenstreckte und ihn bat, daß er die fremden, bösen
„Das käme auf einen Verſuch an!“ rief Phanes. „Laß den König in den Schloßhof treten und die Gefang- nen und Verurtheilten an ihm vorüberführen, dann wird ſich erweiſen, ob er ein Mann iſt oder ein Feigling.“
„So ſei es!“ rief Kambyſes. „Jch werde mich ver- bergen und ihn ungeſehen beobachten. Du begleiteſt mich, Phanes, und nennſt mir den Namen und Stand der ein- zelnen Gefangenen!“
Am Morgen des nächſten Tages begab ſich der Athe- ner mit dem Könige auf den Altan, welcher den rieſen- großen, mit Bäumen bepflanzten Schloßhof umgab. Dichtes Blumengebüſch verbarg die Lauſcher, welche jede Bewegung der Menſchen unter ihnen erkennen und jedes Wort der- ſelben verſtehen konnten. Pſamtik ſtand, von einigen ſeiner früheren Genoſſen umgeben, an einen Palmenbaum gelehnt und ſchaute finſter zu Boden, während ſeine Tochter mit dem Kinde Neithoteph’s und andern Jungfrauen in Skla- venkleidern, gefüllte Waſſerkannen tragend, in den Hof ſchritt. Sobald die Mädchen den König erblickten, erhoben ſie ein lautes Klagegeſchrei, welches Pſamtik aus ſeinen Träumen weckte. Nachdem er die Jammernden erkannt hatte, beugte er ſein Antlitz zur Erde nieder, richtete ſich aber bald wieder auf und fragte ſeine Tochter, für wen ſie das Waſſer trage? Als er vernommen hatte, daß ſie Phanes Sklavendienſte leiſten müſſe, erbleichte er, nickte mit dem Kopfe und rief den Mädchen zu: „Geht und laßt mich allein!“
Wenige Minuten ſpäter traten die Gefangenen, mit Stricken am Halſe und Zäumen im Munde, von perſiſchen Wachen geführt, in den Hof 113). Dem Zuge voran ging der kleine Ramſes, welcher ſeinem Vater die Händchen entgegenſtreckte und ihn bat, daß er die fremden, böſen
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0174"n="164"/><p>„Das käme auf einen Verſuch an!“ rief Phanes.<lb/>„Laß den König in den Schloßhof treten und die Gefang-<lb/>
nen und Verurtheilten an ihm vorüberführen, dann wird<lb/>ſich erweiſen, ob er ein Mann iſt oder ein Feigling.“</p><lb/><p>„So ſei es!“ rief Kambyſes. „Jch werde mich ver-<lb/>
bergen und ihn ungeſehen beobachten. Du begleiteſt mich,<lb/>
Phanes, und nennſt mir den Namen und Stand der ein-<lb/>
zelnen Gefangenen!“</p><lb/><p>Am Morgen des nächſten Tages begab ſich der Athe-<lb/>
ner mit dem Könige auf den Altan, welcher den rieſen-<lb/>
großen, mit Bäumen bepflanzten Schloßhof umgab. Dichtes<lb/>
Blumengebüſch verbarg die Lauſcher, welche jede Bewegung<lb/>
der Menſchen unter ihnen erkennen und jedes Wort der-<lb/>ſelben verſtehen konnten. Pſamtik ſtand, von einigen ſeiner<lb/>
früheren Genoſſen umgeben, an einen Palmenbaum gelehnt<lb/>
und ſchaute finſter zu Boden, während ſeine Tochter mit<lb/>
dem Kinde Neithoteph’s und andern Jungfrauen in Skla-<lb/>
venkleidern, gefüllte Waſſerkannen tragend, in den Hof<lb/>ſchritt. Sobald die Mädchen den König erblickten, erhoben<lb/>ſie ein lautes Klagegeſchrei, welches Pſamtik aus ſeinen<lb/>
Träumen weckte. Nachdem er die Jammernden erkannt<lb/>
hatte, beugte er ſein Antlitz zur Erde nieder, richtete ſich<lb/>
aber bald wieder auf und fragte ſeine Tochter, für wen<lb/>ſie das Waſſer trage? Als er vernommen hatte, daß ſie<lb/>
Phanes Sklavendienſte leiſten müſſe, erbleichte er, nickte<lb/>
mit dem Kopfe und rief den Mädchen zu: „Geht und<lb/>
laßt mich allein!“</p><lb/><p>Wenige Minuten ſpäter traten die Gefangenen, mit<lb/>
Stricken am Halſe und Zäumen im Munde, von perſiſchen<lb/>
Wachen geführt, in den Hof <hirendition="#sup">113</hi>). Dem Zuge voran ging<lb/>
der kleine Ramſes, welcher ſeinem Vater die Händchen<lb/>
entgegenſtreckte und ihn bat, daß er die fremden, böſen<lb/></p></div></body></text></TEI>
[164/0174]
„Das käme auf einen Verſuch an!“ rief Phanes.
„Laß den König in den Schloßhof treten und die Gefang-
nen und Verurtheilten an ihm vorüberführen, dann wird
ſich erweiſen, ob er ein Mann iſt oder ein Feigling.“
„So ſei es!“ rief Kambyſes. „Jch werde mich ver-
bergen und ihn ungeſehen beobachten. Du begleiteſt mich,
Phanes, und nennſt mir den Namen und Stand der ein-
zelnen Gefangenen!“
Am Morgen des nächſten Tages begab ſich der Athe-
ner mit dem Könige auf den Altan, welcher den rieſen-
großen, mit Bäumen bepflanzten Schloßhof umgab. Dichtes
Blumengebüſch verbarg die Lauſcher, welche jede Bewegung
der Menſchen unter ihnen erkennen und jedes Wort der-
ſelben verſtehen konnten. Pſamtik ſtand, von einigen ſeiner
früheren Genoſſen umgeben, an einen Palmenbaum gelehnt
und ſchaute finſter zu Boden, während ſeine Tochter mit
dem Kinde Neithoteph’s und andern Jungfrauen in Skla-
venkleidern, gefüllte Waſſerkannen tragend, in den Hof
ſchritt. Sobald die Mädchen den König erblickten, erhoben
ſie ein lautes Klagegeſchrei, welches Pſamtik aus ſeinen
Träumen weckte. Nachdem er die Jammernden erkannt
hatte, beugte er ſein Antlitz zur Erde nieder, richtete ſich
aber bald wieder auf und fragte ſeine Tochter, für wen
ſie das Waſſer trage? Als er vernommen hatte, daß ſie
Phanes Sklavendienſte leiſten müſſe, erbleichte er, nickte
mit dem Kopfe und rief den Mädchen zu: „Geht und
laßt mich allein!“
Wenige Minuten ſpäter traten die Gefangenen, mit
Stricken am Halſe und Zäumen im Munde, von perſiſchen
Wachen geführt, in den Hof 113). Dem Zuge voran ging
der kleine Ramſes, welcher ſeinem Vater die Händchen
entgegenſtreckte und ihn bat, daß er die fremden, böſen
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ebers, Georg: Eine Aegyptische Königstochter. Bd. 3. Stuttgart, 1864, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ebers_koenigstochter03_1864/174>, abgerufen am 17.06.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.