Licht und setzte mich ein wenig entfernt von ihm an seinen Schreibtisch, um es zu lesen.
Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, so daß ich mich nach einmaligem Lesen, ohne es jedoch ganz zu verstehen, davon eigenartig berührt und ergrif¬ fen fühlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria zum Gegenstande und war als Trilogie behandelt. Der darin herrschende Ton war mir wie aus einer fremden Welt herüber, und die Darstellung der Art, daß mir die Belebung des Gegenstandes sehr schwer ward. Auch war Goethe's persönliche Nähe einer reinen Vertiefung hinderlich; bald hörte ich ihn husten, bald hörte ich ihn seufzen, und so war mein Wesen getheilt, meine eine Hälfte las und die andere war im Gefühl seiner Gegen¬ wart. Ich mußte das Gedicht daher lesen und wieder lesen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr ich aber eindrang, von desto bedeutenderem Character und auf einer desto höheren Stufe der Kunst wollte es mir erscheinen.
Ich sprach darauf mit Goethe sowohl über den Ge¬ genstand als die Behandlung, wo mir denn durch einige seiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.
"Freylich, sagte er darauf, die Behandlung ist sehr knapp und man muß gut eindringen, wenn man es recht besitzen will. Es kommt mir selber vor wie eine aus Stahldräthen geschmiedete Damascenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenstand vierzig Jahre mit mir
Licht und ſetzte mich ein wenig entfernt von ihm an ſeinen Schreibtiſch, um es zu leſen.
Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, ſo daß ich mich nach einmaligem Leſen, ohne es jedoch ganz zu verſtehen, davon eigenartig beruͤhrt und ergrif¬ fen fuͤhlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria zum Gegenſtande und war als Trilogie behandelt. Der darin herrſchende Ton war mir wie aus einer fremden Welt heruͤber, und die Darſtellung der Art, daß mir die Belebung des Gegenſtandes ſehr ſchwer ward. Auch war Goethe's perſoͤnliche Naͤhe einer reinen Vertiefung hinderlich; bald hoͤrte ich ihn huſten, bald hoͤrte ich ihn ſeufzen, und ſo war mein Weſen getheilt, meine eine Haͤlfte las und die andere war im Gefuͤhl ſeiner Gegen¬ wart. Ich mußte das Gedicht daher leſen und wieder leſen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr ich aber eindrang, von deſto bedeutenderem Character und auf einer deſto hoͤheren Stufe der Kunſt wollte es mir erſcheinen.
Ich ſprach darauf mit Goethe ſowohl uͤber den Ge¬ genſtand als die Behandlung, wo mir denn durch einige ſeiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.
„Freylich, ſagte er darauf, die Behandlung iſt ſehr knapp und man muß gut eindringen, wenn man es recht beſitzen will. Es kommt mir ſelber vor wie eine aus Stahldraͤthen geſchmiedete Damascenerklinge. Ich habe aber auch den Gegenſtand vierzig Jahre mit mir
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Licht und ſetzte mich ein wenig entfernt von ihm an
ſeinen Schreibtiſch, um es zu leſen.
Das Gedicht trug einen wunderbaren Charakter, ſo
daß ich mich nach einmaligem Leſen, ohne es jedoch
ganz zu verſtehen, davon eigenartig beruͤhrt und ergrif¬
fen fuͤhlte. Es hatte die Verherrlichung des Paria
zum Gegenſtande und war als Trilogie behandelt. Der
darin herrſchende Ton war mir wie aus einer fremden
Welt heruͤber, und die Darſtellung der Art, daß mir
die Belebung des Gegenſtandes ſehr ſchwer ward. Auch
war Goethe's perſoͤnliche Naͤhe einer reinen Vertiefung
hinderlich; bald hoͤrte ich ihn huſten, bald hoͤrte ich ihn
ſeufzen, und ſo war mein Weſen getheilt, meine eine
Haͤlfte las und die andere war im Gefuͤhl ſeiner Gegen¬
wart. Ich mußte das Gedicht daher leſen und wieder
leſen, um nur einigermaßen hineinzukommen. Je mehr
ich aber eindrang, von deſto bedeutenderem Character
und auf einer deſto hoͤheren Stufe der Kunſt wollte es
mir erſcheinen.
Ich ſprach darauf mit Goethe ſowohl uͤber den Ge¬
genſtand als die Behandlung, wo mir denn durch einige
ſeiner Andeutungen manches lebendiger entgegentrat.
„Freylich, ſagte er darauf, die Behandlung iſt ſehr
knapp und man muß gut eindringen, wenn man es
recht beſitzen will. Es kommt mir ſelber vor wie eine
aus Stahldraͤthen geſchmiedete Damascenerklinge. Ich
habe aber auch den Gegenſtand vierzig Jahre mit mir
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/102>, abgerufen am 24.11.2024.
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