über Byrons Cain geschrieben und die ich mit großem Interesse las.
"Man sieht, sagte er, wie einem freyen Geiste wie Byron die Unzulänglichkeit der kirchlichen Dogmen zu schaffen gemacht und wie er sich durch ein solches Stück von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreyen gesucht. Die englische Geistlichkeit wird es ihm freylich nicht Dank wissen; mich soll aber wundern, ob er nicht in Darstellung nachbarlicher biblischer Gegenstände fort¬ schreiten wird, und ob er sich ein Süjet, wie den Un¬ tergang von Sodom und Gomorra, wird entgehen lassen."
Nach diesen literarischen Betrachtungen lenkte Goethe mein Interesse auf die bildende Kunst, indem er mir einen antiken geschnittenen Stein zeigte, von welchem er schon Tags vorher mit Bewunderung gesprochen. Ich war entzückt bey der Betrachtung der Naivität des dargestellten Gegenstandes. Ich sah einen Mann, der ein schweres Gefäß von der Schulter genommen, um einen Knaben daraus trinken zu lassen. Diesem aber ist es noch nicht bequem, noch nicht mundrecht genug, das Getränk will nicht fließen, und, indem er seine beyden Händchen an das Gefäß legt, blickt er zu dem Manne hinauf und scheint ihn zu bitten, es noch ein wenig zu neigen.
"Nun, wie gefällt Ihnen das? sagte Goethe. Wir Neueren, fuhr er fort, fühlen wohl die große Schön¬
I. 8
uͤber Byrons Cain geſchrieben und die ich mit großem Intereſſe las.
„Man ſieht, ſagte er, wie einem freyen Geiſte wie Byron die Unzulaͤnglichkeit der kirchlichen Dogmen zu ſchaffen gemacht und wie er ſich durch ein ſolches Stuͤck von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreyen geſucht. Die engliſche Geiſtlichkeit wird es ihm freylich nicht Dank wiſſen; mich ſoll aber wundern, ob er nicht in Darſtellung nachbarlicher bibliſcher Gegenſtaͤnde fort¬ ſchreiten wird, und ob er ſich ein Suͤjet, wie den Un¬ tergang von Sodom und Gomorra, wird entgehen laſſen.“
Nach dieſen literariſchen Betrachtungen lenkte Goethe mein Intereſſe auf die bildende Kunſt, indem er mir einen antiken geſchnittenen Stein zeigte, von welchem er ſchon Tags vorher mit Bewunderung geſprochen. Ich war entzuͤckt bey der Betrachtung der Naivitaͤt des dargeſtellten Gegenſtandes. Ich ſah einen Mann, der ein ſchweres Gefaͤß von der Schulter genommen, um einen Knaben daraus trinken zu laſſen. Dieſem aber iſt es noch nicht bequem, noch nicht mundrecht genug, das Getraͤnk will nicht fließen, und, indem er ſeine beyden Haͤndchen an das Gefaͤß legt, blickt er zu dem Manne hinauf und ſcheint ihn zu bitten, es noch ein wenig zu neigen.
„Nun, wie gefaͤllt Ihnen das? ſagte Goethe. Wir Neueren, fuhr er fort, fuͤhlen wohl die große Schoͤn¬
I. 8
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0133"n="113"/>
uͤber Byrons <hirendition="#g">Cain</hi> geſchrieben und die ich mit großem<lb/>
Intereſſe las.</p><lb/><p>„Man ſieht, ſagte er, wie einem freyen Geiſte wie<lb/>
Byron die Unzulaͤnglichkeit der kirchlichen Dogmen zu<lb/>ſchaffen gemacht und wie er ſich durch ein ſolches Stuͤck<lb/>
von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreyen geſucht.<lb/>
Die engliſche Geiſtlichkeit wird es ihm freylich nicht<lb/>
Dank wiſſen; mich ſoll aber wundern, ob er nicht in<lb/>
Darſtellung nachbarlicher bibliſcher Gegenſtaͤnde fort¬<lb/>ſchreiten wird, und ob er ſich ein Suͤjet, wie den Un¬<lb/>
tergang von Sodom und Gomorra, wird entgehen<lb/>
laſſen.“</p><lb/><p>Nach dieſen literariſchen Betrachtungen lenkte Goethe<lb/>
mein Intereſſe auf die bildende Kunſt, indem er mir<lb/>
einen antiken geſchnittenen Stein zeigte, von welchem<lb/>
er ſchon Tags vorher mit Bewunderung geſprochen.<lb/>
Ich war entzuͤckt bey der Betrachtung der Naivitaͤt des<lb/>
dargeſtellten Gegenſtandes. Ich ſah einen Mann, der<lb/>
ein ſchweres Gefaͤß von der Schulter genommen, um<lb/>
einen Knaben daraus trinken zu laſſen. Dieſem aber<lb/>
iſt es noch nicht bequem, noch nicht mundrecht genug,<lb/>
das Getraͤnk will nicht fließen, und, indem er ſeine<lb/>
beyden Haͤndchen an das Gefaͤß legt, blickt er zu dem<lb/>
Manne hinauf und ſcheint ihn zu bitten, es noch ein<lb/>
wenig zu neigen.</p><lb/><p>„Nun, wie gefaͤllt Ihnen das? ſagte Goethe. Wir<lb/>
Neueren, fuhr er fort, fuͤhlen wohl die große Schoͤn¬<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">I</hi>. 8<lb/></fw></p></div></div></body></text></TEI>
[113/0133]
uͤber Byrons Cain geſchrieben und die ich mit großem
Intereſſe las.
„Man ſieht, ſagte er, wie einem freyen Geiſte wie
Byron die Unzulaͤnglichkeit der kirchlichen Dogmen zu
ſchaffen gemacht und wie er ſich durch ein ſolches Stuͤck
von einer ihm aufgedrungenen Lehre zu befreyen geſucht.
Die engliſche Geiſtlichkeit wird es ihm freylich nicht
Dank wiſſen; mich ſoll aber wundern, ob er nicht in
Darſtellung nachbarlicher bibliſcher Gegenſtaͤnde fort¬
ſchreiten wird, und ob er ſich ein Suͤjet, wie den Un¬
tergang von Sodom und Gomorra, wird entgehen
laſſen.“
Nach dieſen literariſchen Betrachtungen lenkte Goethe
mein Intereſſe auf die bildende Kunſt, indem er mir
einen antiken geſchnittenen Stein zeigte, von welchem
er ſchon Tags vorher mit Bewunderung geſprochen.
Ich war entzuͤckt bey der Betrachtung der Naivitaͤt des
dargeſtellten Gegenſtandes. Ich ſah einen Mann, der
ein ſchweres Gefaͤß von der Schulter genommen, um
einen Knaben daraus trinken zu laſſen. Dieſem aber
iſt es noch nicht bequem, noch nicht mundrecht genug,
das Getraͤnk will nicht fließen, und, indem er ſeine
beyden Haͤndchen an das Gefaͤß legt, blickt er zu dem
Manne hinauf und ſcheint ihn zu bitten, es noch ein
wenig zu neigen.
„Nun, wie gefaͤllt Ihnen das? ſagte Goethe. Wir
Neueren, fuhr er fort, fuͤhlen wohl die große Schoͤn¬
I. 8
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/133>, abgerufen am 27.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.