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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

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um sehr bald zur Seite geworfen zu werden. Seine
ganze Körperkraft wendet der junge Held gegen die
schwere Masse und nur seine Blicke richtet er nieder¬
wärts auf die unten vor ihm liegenden Waffen.

Wir freuten uns der großen Naturwahrheit dieser
Behandlung.

"Meyer pflegt immer zu sagen, fiel Goethe lachend
ein, wenn nur das Denken nicht so schwer
wäre
! -- Das Schlimme aber ist, fuhr er heiter fort,
daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß
von Natur richtig seyn, so daß die guten Einfälle im¬
mer wie freye Kinder Gottes vor uns dastehen und uns
zurufen: da sind wir! --"


Goethe zeigte mir heute zwey höchst merkwürdige
Gedichte, beyde in hohem Grade sittlich in ihrer Ten¬
denz, in einzelnen Motiven jedoch so ohne allen Rück¬
halt natürlich und wahr, daß die Welt dergleichen un¬
sittlich zu nennen pflegt, weßhalb er sie denn auch
geheim hielt und an eine öffentliche Mittheilung nicht
dachte.

"Könnten Geist und höhere Bildung, sagte er, ein
Gemeingut werden, so hätte der Dichter ein gutes Spiel;
er könnte immer durchaus wahr seyn und brauchte sich

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um ſehr bald zur Seite geworfen zu werden. Seine
ganze Koͤrperkraft wendet der junge Held gegen die
ſchwere Maſſe und nur ſeine Blicke richtet er nieder¬
waͤrts auf die unten vor ihm liegenden Waffen.

Wir freuten uns der großen Naturwahrheit dieſer
Behandlung.

„Meyer pflegt immer zu ſagen, fiel Goethe lachend
ein, wenn nur das Denken nicht ſo ſchwer
waͤre
! — Das Schlimme aber iſt, fuhr er heiter fort,
daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß
von Natur richtig ſeyn, ſo daß die guten Einfaͤlle im¬
mer wie freye Kinder Gottes vor uns daſtehen und uns
zurufen: da ſind wir! —“


Goethe zeigte mir heute zwey hoͤchſt merkwuͤrdige
Gedichte, beyde in hohem Grade ſittlich in ihrer Ten¬
denz, in einzelnen Motiven jedoch ſo ohne allen Ruͤck¬
halt natuͤrlich und wahr, daß die Welt dergleichen un¬
ſittlich zu nennen pflegt, weßhalb er ſie denn auch
geheim hielt und an eine oͤffentliche Mittheilung nicht
dachte.

„Koͤnnten Geiſt und hoͤhere Bildung, ſagte er, ein
Gemeingut werden, ſo haͤtte der Dichter ein gutes Spiel;
er koͤnnte immer durchaus wahr ſeyn und brauchte ſich

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[115/0135] um ſehr bald zur Seite geworfen zu werden. Seine ganze Koͤrperkraft wendet der junge Held gegen die ſchwere Maſſe und nur ſeine Blicke richtet er nieder¬ waͤrts auf die unten vor ihm liegenden Waffen. Wir freuten uns der großen Naturwahrheit dieſer Behandlung. „Meyer pflegt immer zu ſagen, fiel Goethe lachend ein, wenn nur das Denken nicht ſo ſchwer waͤre! — Das Schlimme aber iſt, fuhr er heiter fort, daß alles Denken zum Denken nichts hilft; man muß von Natur richtig ſeyn, ſo daß die guten Einfaͤlle im¬ mer wie freye Kinder Gottes vor uns daſtehen und uns zurufen: da ſind wir! —“ Mittwoch den 25. Februar 1824. Goethe zeigte mir heute zwey hoͤchſt merkwuͤrdige Gedichte, beyde in hohem Grade ſittlich in ihrer Ten¬ denz, in einzelnen Motiven jedoch ſo ohne allen Ruͤck¬ halt natuͤrlich und wahr, daß die Welt dergleichen un¬ ſittlich zu nennen pflegt, weßhalb er ſie denn auch geheim hielt und an eine oͤffentliche Mittheilung nicht dachte. „Koͤnnten Geiſt und hoͤhere Bildung, ſagte er, ein Gemeingut werden, ſo haͤtte der Dichter ein gutes Spiel; er koͤnnte immer durchaus wahr ſeyn und brauchte ſich 8 *

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 115. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/135>, abgerufen am 27.11.2024.