Welt so lange gewartet, bis ich sie kannte so wäre meine Darstellung Persiflage geworden."
"Es liegt in den Characteren, sagte er ein ander Mal, eine gewisse Nothwendigkeit, eine gewisse Consequenz, vermöge welcher bey diesem oder jenem Grundzuge eines Characters gewisse secundäre Züge Statt finden. Dieses lehrt die Empirie genugsam, es kann aber auch einzelnen Individuen die Kenntniß davon angeboren seyn. Ob bey mir Angeborenes und Erfahrung sich vereinige, will ich nicht untersuchen; aber so viel weiß ich: wenn ich jemanden eine Viertelstunde gesprochen habe, so will ich ihn zwey Stunden reden lassen."
So hatte Goethe von Lord Byron gesagt, daß ihm die Welt durchsichtig sey und daß ihm ihre Darstellung durch Anticipation möglich. Ich äußerte darauf einige Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen möchte, eine untergeordnete thierische Natur darzustellen, indem seine Individualität mir zu gewaltsam erscheine, um sich sol¬ chen Gegenständen mit Liebe hinzugeben. Goethe gab dieses zu und erwiederte, daß die Anticipation sich über¬ all nur soweit erstrecke, als die Gegenstände dem Talent analog seyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬ hältniß, wie die Anticipation beschränkt oder umfassend sey, das darstellende Talent selbst von größerem oder geringerem Umfange befunden werde.
Wenn Eure Excellenz behaupten, sagte ich darauf, daß dem Dichter die Welt angeboren sey, so haben Sie
Welt ſo lange gewartet, bis ich ſie kannte ſo waͤre meine Darſtellung Perſiflage geworden.“
„Es liegt in den Characteren, ſagte er ein ander Mal, eine gewiſſe Nothwendigkeit, eine gewiſſe Conſequenz, vermoͤge welcher bey dieſem oder jenem Grundzuge eines Characters gewiſſe ſecundaͤre Zuͤge Statt finden. Dieſes lehrt die Empirie genugſam, es kann aber auch einzelnen Individuen die Kenntniß davon angeboren ſeyn. Ob bey mir Angeborenes und Erfahrung ſich vereinige, will ich nicht unterſuchen; aber ſo viel weiß ich: wenn ich jemanden eine Viertelſtunde geſprochen habe, ſo will ich ihn zwey Stunden reden laſſen.“
So hatte Goethe von Lord Byron geſagt, daß ihm die Welt durchſichtig ſey und daß ihm ihre Darſtellung durch Anticipation moͤglich. Ich aͤußerte darauf einige Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen moͤchte, eine untergeordnete thieriſche Natur darzuſtellen, indem ſeine Individualitaͤt mir zu gewaltſam erſcheine, um ſich ſol¬ chen Gegenſtaͤnden mit Liebe hinzugeben. Goethe gab dieſes zu und erwiederte, daß die Anticipation ſich uͤber¬ all nur ſoweit erſtrecke, als die Gegenſtaͤnde dem Talent analog ſeyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬ haͤltniß, wie die Anticipation beſchraͤnkt oder umfaſſend ſey, das darſtellende Talent ſelbſt von groͤßerem oder geringerem Umfange befunden werde.
Wenn Eure Excellenz behaupten, ſagte ich darauf, daß dem Dichter die Welt angeboren ſey, ſo haben Sie
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Welt ſo lange gewartet, bis ich ſie kannte ſo waͤre
meine Darſtellung Perſiflage geworden.“
„Es liegt in den Characteren, ſagte er ein ander
Mal, eine gewiſſe Nothwendigkeit, eine gewiſſe Conſequenz,
vermoͤge welcher bey dieſem oder jenem Grundzuge eines
Characters gewiſſe ſecundaͤre Zuͤge Statt finden. Dieſes
lehrt die Empirie genugſam, es kann aber auch einzelnen
Individuen die Kenntniß davon angeboren ſeyn. Ob
bey mir Angeborenes und Erfahrung ſich vereinige, will
ich nicht unterſuchen; aber ſo viel weiß ich: wenn ich
jemanden eine Viertelſtunde geſprochen habe, ſo will ich
ihn zwey Stunden reden laſſen.“
So hatte Goethe von Lord Byron geſagt, daß ihm
die Welt durchſichtig ſey und daß ihm ihre Darſtellung
durch Anticipation moͤglich. Ich aͤußerte darauf einige
Zweifel: ob es Byron z. B. gelingen moͤchte, eine
untergeordnete thieriſche Natur darzuſtellen, indem ſeine
Individualitaͤt mir zu gewaltſam erſcheine, um ſich ſol¬
chen Gegenſtaͤnden mit Liebe hinzugeben. Goethe gab
dieſes zu und erwiederte, daß die Anticipation ſich uͤber¬
all nur ſoweit erſtrecke, als die Gegenſtaͤnde dem Talent
analog ſeyen, und wir wurden einig, daß in dem Ver¬
haͤltniß, wie die Anticipation beſchraͤnkt oder umfaſſend
ſey, das darſtellende Talent ſelbſt von groͤßerem oder
geringerem Umfange befunden werde.
Wenn Eure Excellenz behaupten, ſagte ich darauf,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 127. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/147>, abgerufen am 27.11.2024.
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