Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

chen wollte, der sich auch nicht gemacht hat, und der doch
ein Wesen höherer Art ist, zu dem ich hinaufblicke und
das ich zu verehren habe."

Goethe war diesen Abend besonders kräftig, heiter
und aufgelegt. Er holte ein Manuscript ungedruckter
Gedichte herbey, woraus er mir vorlas. Es war ein
Genuß ganz einziger Art ihm zuzuhören, denn nicht
allein daß die originelle Kraft und Frische der Gedichte
mich in hohem Grade anregte, sondern Goethe zeigte
sich auch beym Vorlesen von einer mir bisher unbe¬
kannten höchst bedeutenden Seite. Welche Mannigfal¬
tigkeit und Kraft der Stimme! welcher Ausdruck und
welches Leben des großen Gesichtes voller Falten! und
welche Augen! --


Um ein Uhr mit Goethe spazieren gefahren. Wir
sprachen über den Styl verschiedener Schriftsteller.

"Den Deutschen, sagte Goethe, ist im Ganzen die
philosophische Speculation hinderlich, die in ihren Styl
oft ein unsinnliches, unfaßliches, breites und aufdrö¬
selndes Wesen hineinbringt. Je näher sie sich gewissen
philosophischen Schulen hingegeben, desto schlechter schrei¬
ben sie. Diejenigen Deutschen aber, die als Geschäfts-
und Lebemenschen bloß aufs Praktische gehen, schreiben

chen wollte, der ſich auch nicht gemacht hat, und der doch
ein Weſen hoͤherer Art iſt, zu dem ich hinaufblicke und
das ich zu verehren habe.“

Goethe war dieſen Abend beſonders kraͤftig, heiter
und aufgelegt. Er holte ein Manuſcript ungedruckter
Gedichte herbey, woraus er mir vorlas. Es war ein
Genuß ganz einziger Art ihm zuzuhoͤren, denn nicht
allein daß die originelle Kraft und Friſche der Gedichte
mich in hohem Grade anregte, ſondern Goethe zeigte
ſich auch beym Vorleſen von einer mir bisher unbe¬
kannten hoͤchſt bedeutenden Seite. Welche Mannigfal¬
tigkeit und Kraft der Stimme! welcher Ausdruck und
welches Leben des großen Geſichtes voller Falten! und
welche Augen! —


Um ein Uhr mit Goethe ſpazieren gefahren. Wir
ſprachen uͤber den Styl verſchiedener Schriftſteller.

„Den Deutſchen, ſagte Goethe, iſt im Ganzen die
philoſophiſche Speculation hinderlich, die in ihren Styl
oft ein unſinnliches, unfaßliches, breites und aufdroͤ¬
ſelndes Weſen hineinbringt. Je naͤher ſie ſich gewiſſen
philoſophiſchen Schulen hingegeben, deſto ſchlechter ſchrei¬
ben ſie. Diejenigen Deutſchen aber, die als Geſchaͤfts-
und Lebemenſchen bloß aufs Praktiſche gehen, ſchreiben

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0164" n="144"/>
chen wollte, der &#x017F;ich auch nicht gemacht hat, und der doch<lb/>
ein We&#x017F;en ho&#x0364;herer Art i&#x017F;t, zu dem ich hinaufblicke und<lb/>
das ich zu verehren habe.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Goethe war die&#x017F;en Abend be&#x017F;onders kra&#x0364;ftig, heiter<lb/>
und aufgelegt. Er holte ein Manu&#x017F;cript ungedruckter<lb/>
Gedichte herbey, woraus er mir vorlas. Es war ein<lb/>
Genuß ganz einziger Art ihm zuzuho&#x0364;ren, denn nicht<lb/>
allein daß die originelle Kraft und Fri&#x017F;che der Gedichte<lb/>
mich in hohem Grade anregte, &#x017F;ondern Goethe zeigte<lb/>
&#x017F;ich auch beym Vorle&#x017F;en von einer mir bisher unbe¬<lb/>
kannten ho&#x0364;ch&#x017F;t bedeutenden Seite. Welche Mannigfal¬<lb/>
tigkeit und Kraft der Stimme! welcher Ausdruck und<lb/>
welches Leben des großen Ge&#x017F;ichtes voller Falten! und<lb/>
welche Augen! &#x2014;</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        </div>
        <div n="2">
          <dateline rendition="#right">Mittwoch den 14. April 1824.<lb/></dateline>
          <p>Um ein Uhr mit Goethe &#x017F;pazieren gefahren. Wir<lb/>
&#x017F;prachen u&#x0364;ber den Styl ver&#x017F;chiedener Schrift&#x017F;teller.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Den Deut&#x017F;chen, &#x017F;agte Goethe, i&#x017F;t im Ganzen die<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;che Speculation hinderlich, die in ihren Styl<lb/>
oft ein un&#x017F;innliches, unfaßliches, breites und aufdro&#x0364;¬<lb/>
&#x017F;elndes We&#x017F;en hineinbringt. Je na&#x0364;her &#x017F;ie &#x017F;ich gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
philo&#x017F;ophi&#x017F;chen Schulen hingegeben, de&#x017F;to &#x017F;chlechter &#x017F;chrei¬<lb/>
ben &#x017F;ie. Diejenigen Deut&#x017F;chen aber, die als Ge&#x017F;cha&#x0364;fts-<lb/>
und Lebemen&#x017F;chen bloß aufs Prakti&#x017F;che gehen, &#x017F;chreiben<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[144/0164] chen wollte, der ſich auch nicht gemacht hat, und der doch ein Weſen hoͤherer Art iſt, zu dem ich hinaufblicke und das ich zu verehren habe.“ Goethe war dieſen Abend beſonders kraͤftig, heiter und aufgelegt. Er holte ein Manuſcript ungedruckter Gedichte herbey, woraus er mir vorlas. Es war ein Genuß ganz einziger Art ihm zuzuhoͤren, denn nicht allein daß die originelle Kraft und Friſche der Gedichte mich in hohem Grade anregte, ſondern Goethe zeigte ſich auch beym Vorleſen von einer mir bisher unbe¬ kannten hoͤchſt bedeutenden Seite. Welche Mannigfal¬ tigkeit und Kraft der Stimme! welcher Ausdruck und welches Leben des großen Geſichtes voller Falten! und welche Augen! — Mittwoch den 14. April 1824. Um ein Uhr mit Goethe ſpazieren gefahren. Wir ſprachen uͤber den Styl verſchiedener Schriftſteller. „Den Deutſchen, ſagte Goethe, iſt im Ganzen die philoſophiſche Speculation hinderlich, die in ihren Styl oft ein unſinnliches, unfaßliches, breites und aufdroͤ¬ ſelndes Weſen hineinbringt. Je naͤher ſie ſich gewiſſen philoſophiſchen Schulen hingegeben, deſto ſchlechter ſchrei¬ ben ſie. Diejenigen Deutſchen aber, die als Geſchaͤfts- und Lebemenſchen bloß aufs Praktiſche gehen, ſchreiben

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/164
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/164>, abgerufen am 26.11.2024.