Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deut¬ scher Literatur gelesen habe. Ich habe den Egmont ge¬ lesen, antwortete dieser, und habe an dem Buche so viele Freude gehabt, daß ich dreymal zu ihm zurück¬ gekehrt bin. So auch hat Torquato Tasso mir vielen Genuß gewährt. Jetzt lese ich den Faust, ich finde aber, daß er ein wenig schwer ist. Goethe lachte bey diesen letzten Worten. "Freylich, sagte er, würde ich Ihnen zum Faust noch nicht gerathen haben. Es ist tol¬ les Zeug und geht über alle gewöhnlichen Empfindungen hinaus. Aber da Sie es von selbst gethan haben, ohne mich zu fragen, so mögen Sie sehen wie Sie durchkom¬ men. Faust ist ein so seltsames Individuum, daß nur wenige Menschen seine inneren Zustände nachempfinden können. So der Character des Mephistopheles ist durch die Ironie und als lebendiges Resultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas sehr Schweres. Doch sehen Sie zu, was für Lichter sich Ihnen dabey aufthun. Der Tasso dagegen steht dem allgemeinen Menschengefühl bey weitem näher, auch ist das Ausführliche seiner Form einem leichteren Verständniß günstig." Dennoch, er¬ wiederte Herr H., hält man in Deutschland den Tasso für schwer, so daß man sich wunderte, als ich sagte, daß ich ihn lese. "Die Hauptsache beym Tasso, sagte Goethe, ist die, daß man kein Kind mehr sey und gute Gesellschaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geist und Zartsinn
Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deut¬ ſcher Literatur geleſen habe. Ich habe den Egmont ge¬ leſen, antwortete dieſer, und habe an dem Buche ſo viele Freude gehabt, daß ich dreymal zu ihm zuruͤck¬ gekehrt bin. So auch hat Torquato Taſſo mir vielen Genuß gewaͤhrt. Jetzt leſe ich den Fauſt, ich finde aber, daß er ein wenig ſchwer iſt. Goethe lachte bey dieſen letzten Worten. „Freylich, ſagte er, wuͤrde ich Ihnen zum Fauſt noch nicht gerathen haben. Es iſt tol¬ les Zeug und geht uͤber alle gewoͤhnlichen Empfindungen hinaus. Aber da Sie es von ſelbſt gethan haben, ohne mich zu fragen, ſo moͤgen Sie ſehen wie Sie durchkom¬ men. Fauſt iſt ein ſo ſeltſames Individuum, daß nur wenige Menſchen ſeine inneren Zuſtaͤnde nachempfinden koͤnnen. So der Character des Mephiſtopheles iſt durch die Ironie und als lebendiges Reſultat einer großen Weltbetrachtung wieder etwas ſehr Schweres. Doch ſehen Sie zu, was fuͤr Lichter ſich Ihnen dabey aufthun. Der Taſſo dagegen ſteht dem allgemeinen Menſchengefuͤhl bey weitem naͤher, auch iſt das Ausfuͤhrliche ſeiner Form einem leichteren Verſtaͤndniß guͤnſtig.“ Dennoch, er¬ wiederte Herr H., haͤlt man in Deutſchland den Taſſo fuͤr ſchwer, ſo daß man ſich wunderte, als ich ſagte, daß ich ihn leſe. „Die Hauptſache beym Taſſo, ſagte Goethe, iſt die, daß man kein Kind mehr ſey und gute Geſellſchaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von guter Familie mit hinreichendem Geiſt und Zartſinn
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0203"n="183"/><p>Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deut¬<lb/>ſcher Literatur geleſen habe. Ich habe den Egmont ge¬<lb/>
leſen, antwortete dieſer, und habe an dem Buche ſo<lb/>
viele Freude gehabt, daß ich dreymal zu ihm zuruͤck¬<lb/>
gekehrt bin. So auch hat Torquato Taſſo mir vielen<lb/>
Genuß gewaͤhrt. Jetzt leſe ich den Fauſt, ich finde<lb/>
aber, daß er ein wenig ſchwer iſt. Goethe lachte bey<lb/>
dieſen letzten Worten. „Freylich, ſagte er, wuͤrde ich<lb/>
Ihnen zum Fauſt noch nicht gerathen haben. Es iſt tol¬<lb/>
les Zeug und geht uͤber alle gewoͤhnlichen Empfindungen<lb/>
hinaus. Aber da Sie es von ſelbſt gethan haben, ohne<lb/>
mich zu fragen, ſo moͤgen Sie ſehen wie Sie durchkom¬<lb/>
men. Fauſt iſt ein ſo ſeltſames Individuum, daß nur<lb/>
wenige Menſchen ſeine inneren Zuſtaͤnde nachempfinden<lb/>
koͤnnen. So der Character des Mephiſtopheles iſt durch<lb/>
die Ironie und als lebendiges Reſultat einer großen<lb/>
Weltbetrachtung wieder etwas ſehr Schweres. Doch ſehen<lb/>
Sie zu, was fuͤr Lichter ſich Ihnen dabey aufthun. Der<lb/>
Taſſo dagegen ſteht dem allgemeinen Menſchengefuͤhl<lb/>
bey weitem naͤher, auch iſt das Ausfuͤhrliche ſeiner Form<lb/>
einem leichteren Verſtaͤndniß guͤnſtig.“ Dennoch, er¬<lb/>
wiederte Herr H., haͤlt man in Deutſchland den Taſſo<lb/>
fuͤr ſchwer, ſo daß man ſich wunderte, als ich ſagte,<lb/>
daß ich ihn leſe. „Die Hauptſache beym Taſſo, ſagte<lb/>
Goethe, iſt die, daß man kein Kind mehr ſey und gute<lb/>
Geſellſchaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von<lb/>
guter Familie mit hinreichendem Geiſt und Zartſinn<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[183/0203]
Goethe fragte darauf Herrn H., was er von deut¬
ſcher Literatur geleſen habe. Ich habe den Egmont ge¬
leſen, antwortete dieſer, und habe an dem Buche ſo
viele Freude gehabt, daß ich dreymal zu ihm zuruͤck¬
gekehrt bin. So auch hat Torquato Taſſo mir vielen
Genuß gewaͤhrt. Jetzt leſe ich den Fauſt, ich finde
aber, daß er ein wenig ſchwer iſt. Goethe lachte bey
dieſen letzten Worten. „Freylich, ſagte er, wuͤrde ich
Ihnen zum Fauſt noch nicht gerathen haben. Es iſt tol¬
les Zeug und geht uͤber alle gewoͤhnlichen Empfindungen
hinaus. Aber da Sie es von ſelbſt gethan haben, ohne
mich zu fragen, ſo moͤgen Sie ſehen wie Sie durchkom¬
men. Fauſt iſt ein ſo ſeltſames Individuum, daß nur
wenige Menſchen ſeine inneren Zuſtaͤnde nachempfinden
koͤnnen. So der Character des Mephiſtopheles iſt durch
die Ironie und als lebendiges Reſultat einer großen
Weltbetrachtung wieder etwas ſehr Schweres. Doch ſehen
Sie zu, was fuͤr Lichter ſich Ihnen dabey aufthun. Der
Taſſo dagegen ſteht dem allgemeinen Menſchengefuͤhl
bey weitem naͤher, auch iſt das Ausfuͤhrliche ſeiner Form
einem leichteren Verſtaͤndniß guͤnſtig.“ Dennoch, er¬
wiederte Herr H., haͤlt man in Deutſchland den Taſſo
fuͤr ſchwer, ſo daß man ſich wunderte, als ich ſagte,
daß ich ihn leſe. „Die Hauptſache beym Taſſo, ſagte
Goethe, iſt die, daß man kein Kind mehr ſey und gute
Geſellſchaft nicht entbehrt habe. Ein junger Mann von
guter Familie mit hinreichendem Geiſt und Zartſinn
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/203>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.