Ich hatte schon im Laufe des Sommers die Freude gehabt, alle diese noch ungedruckten Lebensjahre bis auf die neueste Zeit herauf wiederholt zu lesen und zu be¬ trachten. Aber jetzt in Goethe's Gegenwart sie laut vor¬ lesen zu hören, gewährte mir einen ganz neuen Genuß. -- Riemer war auf den Ausdruck gerichtet und ich hatte Ge¬ legenheit seine große Gewandtheit und seinen Reichthum an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen aber war die geschilderte Lebensepoche rege, er schwelgte in Erinnerungen und ergänzte bey Erwähnung einzelner Personen und Vorfälle das Geschriebene durch detaillirte mündliche Erzählung. -- Es war ein köstlicher Abend! der bedeutendsten mitlebenden Männer ward wiederholt gedacht; zu Schillern jedoch, der dieser Epoche von 1795 bis 1800 am engsten verflochten war, kehrte das Gespräch immer von neuem zurück. Das Theater war ein Gegenstand ihres gemeinsamen Wirkens gewesen, so auch fallen Goethe's vorzüglichste Werke in jene Zeit. Der Wilhelm Meister wird beendigt, Hermann und Dorothea gleich hinterher entworfen und geschrieben, Cellini übersetzt für die Horen, die Xenien gemeinschaft¬ lich gedichtet für Schillers Musenalmanach, an täglichen Berührungspuncten war kein Mangel. Dieses alles kam nun diesen Abend zur Sprache und es fehlte Goe¬ then nicht an Anlaß zu den interessantesten Äußerungen.
"Hermann und Dorothea, sagte er unter andern, ist fast das einzige meiner größeren Gedichte, das mir
I. 13
Ich hatte ſchon im Laufe des Sommers die Freude gehabt, alle dieſe noch ungedruckten Lebensjahre bis auf die neueſte Zeit herauf wiederholt zu leſen und zu be¬ trachten. Aber jetzt in Goethe's Gegenwart ſie laut vor¬ leſen zu hoͤren, gewaͤhrte mir einen ganz neuen Genuß. — Riemer war auf den Ausdruck gerichtet und ich hatte Ge¬ legenheit ſeine große Gewandtheit und ſeinen Reichthum an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen aber war die geſchilderte Lebensepoche rege, er ſchwelgte in Erinnerungen und ergaͤnzte bey Erwaͤhnung einzelner Perſonen und Vorfaͤlle das Geſchriebene durch detaillirte muͤndliche Erzaͤhlung. — Es war ein koͤſtlicher Abend! der bedeutendſten mitlebenden Maͤnner ward wiederholt gedacht; zu Schillern jedoch, der dieſer Epoche von 1795 bis 1800 am engſten verflochten war, kehrte das Geſpraͤch immer von neuem zuruͤck. Das Theater war ein Gegenſtand ihres gemeinſamen Wirkens geweſen, ſo auch fallen Goethe's vorzuͤglichſte Werke in jene Zeit. Der Wilhelm Meiſter wird beendigt, Hermann und Dorothea gleich hinterher entworfen und geſchrieben, Cellini uͤberſetzt fuͤr die Horen, die Xenien gemeinſchaft¬ lich gedichtet fuͤr Schillers Muſenalmanach, an taͤglichen Beruͤhrungspuncten war kein Mangel. Dieſes alles kam nun dieſen Abend zur Sprache und es fehlte Goe¬ then nicht an Anlaß zu den intereſſanteſten Äußerungen.
„Hermann und Dorothea, ſagte er unter andern, iſt faſt das einzige meiner groͤßeren Gedichte, das mir
I. 13
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="5"><pbfacs="#f0213"n="193"/><p>Ich hatte ſchon im Laufe des Sommers die Freude<lb/>
gehabt, alle dieſe noch ungedruckten Lebensjahre bis auf<lb/>
die neueſte Zeit herauf wiederholt zu leſen und zu be¬<lb/>
trachten. Aber jetzt in Goethe's Gegenwart ſie laut vor¬<lb/>
leſen zu hoͤren, gewaͤhrte mir einen ganz neuen Genuß. —<lb/>
Riemer war auf den Ausdruck gerichtet und ich hatte Ge¬<lb/>
legenheit ſeine große Gewandtheit und ſeinen Reichthum<lb/>
an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen<lb/>
aber war die geſchilderte Lebensepoche rege, er ſchwelgte<lb/>
in Erinnerungen und ergaͤnzte bey Erwaͤhnung einzelner<lb/>
Perſonen und Vorfaͤlle das Geſchriebene durch detaillirte<lb/>
muͤndliche Erzaͤhlung. — Es war ein koͤſtlicher Abend!<lb/>
der bedeutendſten mitlebenden Maͤnner ward wiederholt<lb/>
gedacht; zu <hirendition="#g">Schillern</hi> jedoch, der dieſer Epoche von<lb/>
1795 bis 1800 am engſten verflochten war, kehrte das<lb/>
Geſpraͤch immer von neuem zuruͤck. Das Theater war<lb/>
ein Gegenſtand ihres gemeinſamen Wirkens geweſen,<lb/>ſo auch fallen Goethe's vorzuͤglichſte Werke in jene Zeit.<lb/>
Der Wilhelm Meiſter wird beendigt, Hermann und<lb/>
Dorothea gleich hinterher entworfen und geſchrieben,<lb/>
Cellini uͤberſetzt fuͤr die Horen, die Xenien gemeinſchaft¬<lb/>
lich gedichtet fuͤr Schillers Muſenalmanach, an taͤglichen<lb/>
Beruͤhrungspuncten war kein Mangel. Dieſes alles<lb/>
kam nun dieſen Abend zur Sprache und es fehlte Goe¬<lb/>
then nicht an Anlaß zu den intereſſanteſten Äußerungen.</p><lb/><p>„Hermann und Dorothea, ſagte er unter andern,<lb/>
iſt faſt das einzige meiner groͤßeren Gedichte, das mir<lb/><fwplace="bottom"type="sig"><hirendition="#aq">I.</hi> 13<lb/></fw></p></div></div></div></body></text></TEI>
[193/0213]
Ich hatte ſchon im Laufe des Sommers die Freude
gehabt, alle dieſe noch ungedruckten Lebensjahre bis auf
die neueſte Zeit herauf wiederholt zu leſen und zu be¬
trachten. Aber jetzt in Goethe's Gegenwart ſie laut vor¬
leſen zu hoͤren, gewaͤhrte mir einen ganz neuen Genuß. —
Riemer war auf den Ausdruck gerichtet und ich hatte Ge¬
legenheit ſeine große Gewandtheit und ſeinen Reichthum
an Worten und Wendungen zu bewundern. In Goethen
aber war die geſchilderte Lebensepoche rege, er ſchwelgte
in Erinnerungen und ergaͤnzte bey Erwaͤhnung einzelner
Perſonen und Vorfaͤlle das Geſchriebene durch detaillirte
muͤndliche Erzaͤhlung. — Es war ein koͤſtlicher Abend!
der bedeutendſten mitlebenden Maͤnner ward wiederholt
gedacht; zu Schillern jedoch, der dieſer Epoche von
1795 bis 1800 am engſten verflochten war, kehrte das
Geſpraͤch immer von neuem zuruͤck. Das Theater war
ein Gegenſtand ihres gemeinſamen Wirkens geweſen,
ſo auch fallen Goethe's vorzuͤglichſte Werke in jene Zeit.
Der Wilhelm Meiſter wird beendigt, Hermann und
Dorothea gleich hinterher entworfen und geſchrieben,
Cellini uͤberſetzt fuͤr die Horen, die Xenien gemeinſchaft¬
lich gedichtet fuͤr Schillers Muſenalmanach, an taͤglichen
Beruͤhrungspuncten war kein Mangel. Dieſes alles
kam nun dieſen Abend zur Sprache und es fehlte Goe¬
then nicht an Anlaß zu den intereſſanteſten Äußerungen.
„Hermann und Dorothea, ſagte er unter andern,
iſt faſt das einzige meiner groͤßeren Gedichte, das mir
I. 13
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 193. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/213>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.