"Mangel an Character der einzelnen forschenden und schreibenden Individuen, sagte er, ist die Quelle alles Übels unserer neuesten Literatur."
"Besonders in der Critik zeigt dieser Mangel sich zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬ sches für Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns besser wäre."
"Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer Lucretia, eines Mucius Scävola und ließ sich dadurch erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die histo¬ rische Critik und sagt, daß jene Personen nie gelebt haben, sondern als Fictionen und Fabeln anzusehen sind, die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! und wenn die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten, so sollten wir wenigstens groß genug seyn, daran zu glauben."
"So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬ ser Friedrich der zweyte mit dem Pabste zu thun hatte und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen offen stand. Asiatische Horden kamen auch wirklich herein und waren schon bis Schlesien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg
„Mangel an Character der einzelnen forſchenden und ſchreibenden Individuen, ſagte er, iſt die Quelle alles Übels unſerer neueſten Literatur.“
„Beſonders in der Critik zeigt dieſer Mangel ſich zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬ ſches fuͤr Wahres verbreitet, oder durch ein aͤrmliches Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns beſſer waͤre.“
„Bisher glaubte die Welt an den Heldenſinn einer Lucretia, eines Mucius Scaͤvola und ließ ſich dadurch erwaͤrmen und begeiſtern. Jetzt aber kommt die hiſto¬ riſche Critik und ſagt, daß jene Perſonen nie gelebt haben, ſondern als Fictionen und Fabeln anzuſehen ſind, die der große Sinn der Roͤmer erdichtete. Was ſollen wir aber mit einer ſo aͤrmlichen Wahrheit! und wenn die Roͤmer groß genug waren, ſo etwas zu erdichten, ſo ſollten wir wenigſtens groß genug ſeyn, daran zu glauben.“
„So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬ ſer Friedrich der zweyte mit dem Pabſte zu thun hatte und das noͤrdliche Deutſchland allen feindlichen Einfaͤllen offen ſtand. Aſiatiſche Horden kamen auch wirklich herein und waren ſchon bis Schleſien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz ſetzte ſie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten ſie ſich nach Maͤhren, aber hier wurden ſie vom Grafen Sternberg
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„Mangel an Character der einzelnen forſchenden und
ſchreibenden Individuen, ſagte er, iſt die Quelle alles
Übels unſerer neueſten Literatur.“
„Beſonders in der Critik zeigt dieſer Mangel ſich
zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬
ſches fuͤr Wahres verbreitet, oder durch ein aͤrmliches
Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns beſſer
waͤre.“
„Bisher glaubte die Welt an den Heldenſinn einer
Lucretia, eines Mucius Scaͤvola und ließ ſich dadurch
erwaͤrmen und begeiſtern. Jetzt aber kommt die hiſto¬
riſche Critik und ſagt, daß jene Perſonen nie gelebt
haben, ſondern als Fictionen und Fabeln anzuſehen ſind,
die der große Sinn der Roͤmer erdichtete. Was ſollen
wir aber mit einer ſo aͤrmlichen Wahrheit! und wenn
die Roͤmer groß genug waren, ſo etwas zu erdichten,
ſo ſollten wir wenigſtens groß genug ſeyn, daran zu
glauben.“
„So hatte ich bisher immer meine Freude an einem
großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬
ſer Friedrich der zweyte mit dem Pabſte zu thun hatte
und das noͤrdliche Deutſchland allen feindlichen Einfaͤllen
offen ſtand. Aſiatiſche Horden kamen auch wirklich
herein und waren ſchon bis Schleſien vorgedrungen;
aber der Herzog von Liegnitz ſetzte ſie durch eine große
Niederlage in Schrecken. Dann wendeten ſie ſich nach
Maͤhren, aber hier wurden ſie vom Grafen Sternberg
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/244>, abgerufen am 21.11.2024.
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