Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

"Mangel an Character der einzelnen forschenden und
schreibenden Individuen, sagte er, ist die Quelle alles
Übels unserer neuesten Literatur."

"Besonders in der Critik zeigt dieser Mangel sich
zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬
sches für Wahres verbreitet, oder durch ein ärmliches
Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns besser
wäre."

"Bisher glaubte die Welt an den Heldensinn einer
Lucretia, eines Mucius Scävola und ließ sich dadurch
erwärmen und begeistern. Jetzt aber kommt die histo¬
rische Critik und sagt, daß jene Personen nie gelebt
haben, sondern als Fictionen und Fabeln anzusehen sind,
die der große Sinn der Römer erdichtete. Was sollen
wir aber mit einer so ärmlichen Wahrheit! und wenn
die Römer groß genug waren, so etwas zu erdichten,
so sollten wir wenigstens groß genug seyn, daran zu
glauben."

"So hatte ich bisher immer meine Freude an einem
großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬
ser Friedrich der zweyte mit dem Pabste zu thun hatte
und das nördliche Deutschland allen feindlichen Einfällen
offen stand. Asiatische Horden kamen auch wirklich
herein und waren schon bis Schlesien vorgedrungen;
aber der Herzog von Liegnitz setzte sie durch eine große
Niederlage in Schrecken. Dann wendeten sie sich nach
Mähren, aber hier wurden sie vom Grafen Sternberg

„Mangel an Character der einzelnen forſchenden und
ſchreibenden Individuen, ſagte er, iſt die Quelle alles
Übels unſerer neueſten Literatur.“

„Beſonders in der Critik zeigt dieſer Mangel ſich
zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬
ſches fuͤr Wahres verbreitet, oder durch ein aͤrmliches
Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns beſſer
waͤre.“

„Bisher glaubte die Welt an den Heldenſinn einer
Lucretia, eines Mucius Scaͤvola und ließ ſich dadurch
erwaͤrmen und begeiſtern. Jetzt aber kommt die hiſto¬
riſche Critik und ſagt, daß jene Perſonen nie gelebt
haben, ſondern als Fictionen und Fabeln anzuſehen ſind,
die der große Sinn der Roͤmer erdichtete. Was ſollen
wir aber mit einer ſo aͤrmlichen Wahrheit! und wenn
die Roͤmer groß genug waren, ſo etwas zu erdichten,
ſo ſollten wir wenigſtens groß genug ſeyn, daran zu
glauben.“

„So hatte ich bisher immer meine Freude an einem
großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬
ſer Friedrich der zweyte mit dem Pabſte zu thun hatte
und das noͤrdliche Deutſchland allen feindlichen Einfaͤllen
offen ſtand. Aſiatiſche Horden kamen auch wirklich
herein und waren ſchon bis Schleſien vorgedrungen;
aber der Herzog von Liegnitz ſetzte ſie durch eine große
Niederlage in Schrecken. Dann wendeten ſie ſich nach
Maͤhren, aber hier wurden ſie vom Grafen Sternberg

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0244" n="224"/>
          <p>&#x201E;Mangel an Character der einzelnen for&#x017F;chenden und<lb/>
&#x017F;chreibenden Individuen, &#x017F;agte er, i&#x017F;t die Quelle alles<lb/>
Übels un&#x017F;erer neue&#x017F;ten Literatur.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Be&#x017F;onders in der Critik zeigt die&#x017F;er Mangel &#x017F;ich<lb/>
zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬<lb/>
&#x017F;ches fu&#x0364;r Wahres verbreitet, oder durch ein a&#x0364;rmliches<lb/>
Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns be&#x017F;&#x017F;er<lb/>
wa&#x0364;re.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;Bisher glaubte die Welt an den Helden&#x017F;inn einer<lb/>
Lucretia, eines Mucius Sca&#x0364;vola und ließ &#x017F;ich dadurch<lb/>
erwa&#x0364;rmen und begei&#x017F;tern. Jetzt aber kommt die hi&#x017F;to¬<lb/>
ri&#x017F;che Critik und &#x017F;agt, daß jene Per&#x017F;onen nie gelebt<lb/>
haben, &#x017F;ondern als Fictionen und Fabeln anzu&#x017F;ehen &#x017F;ind,<lb/>
die der große Sinn der Ro&#x0364;mer erdichtete. Was &#x017F;ollen<lb/>
wir aber mit einer &#x017F;o a&#x0364;rmlichen Wahrheit! und wenn<lb/>
die Ro&#x0364;mer groß genug waren, &#x017F;o etwas zu erdichten,<lb/>
&#x017F;o &#x017F;ollten wir wenig&#x017F;tens groß genug &#x017F;eyn, daran zu<lb/>
glauben.&#x201C;</p><lb/>
          <p>&#x201E;So hatte ich bisher immer meine Freude an einem<lb/>
großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬<lb/>
&#x017F;er Friedrich der zweyte mit dem Pab&#x017F;te zu thun hatte<lb/>
und das no&#x0364;rdliche Deut&#x017F;chland allen feindlichen Einfa&#x0364;llen<lb/>
offen &#x017F;tand. A&#x017F;iati&#x017F;che Horden kamen auch wirklich<lb/>
herein und waren &#x017F;chon bis Schle&#x017F;ien vorgedrungen;<lb/>
aber der Herzog von Liegnitz &#x017F;etzte &#x017F;ie durch eine große<lb/>
Niederlage in Schrecken. Dann wendeten &#x017F;ie &#x017F;ich nach<lb/>
Ma&#x0364;hren, aber hier wurden &#x017F;ie vom Grafen Sternberg<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[224/0244] „Mangel an Character der einzelnen forſchenden und ſchreibenden Individuen, ſagte er, iſt die Quelle alles Übels unſerer neueſten Literatur.“ „Beſonders in der Critik zeigt dieſer Mangel ſich zum Nachtheile der Welt, indem er entweder Fal¬ ſches fuͤr Wahres verbreitet, oder durch ein aͤrmliches Wahre uns um etwas Großes bringt, das uns beſſer waͤre.“ „Bisher glaubte die Welt an den Heldenſinn einer Lucretia, eines Mucius Scaͤvola und ließ ſich dadurch erwaͤrmen und begeiſtern. Jetzt aber kommt die hiſto¬ riſche Critik und ſagt, daß jene Perſonen nie gelebt haben, ſondern als Fictionen und Fabeln anzuſehen ſind, die der große Sinn der Roͤmer erdichtete. Was ſollen wir aber mit einer ſo aͤrmlichen Wahrheit! und wenn die Roͤmer groß genug waren, ſo etwas zu erdichten, ſo ſollten wir wenigſtens groß genug ſeyn, daran zu glauben.“ „So hatte ich bisher immer meine Freude an einem großen Factum des dreyzehnten Jahrhunderts, wo Kai¬ ſer Friedrich der zweyte mit dem Pabſte zu thun hatte und das noͤrdliche Deutſchland allen feindlichen Einfaͤllen offen ſtand. Aſiatiſche Horden kamen auch wirklich herein und waren ſchon bis Schleſien vorgedrungen; aber der Herzog von Liegnitz ſetzte ſie durch eine große Niederlage in Schrecken. Dann wendeten ſie ſich nach Maͤhren, aber hier wurden ſie vom Grafen Sternberg

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/244
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/244>, abgerufen am 21.11.2024.