Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

unbekannt, blieb mir weiter nichts übrig, als die Charac¬
tere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich
trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir
die einzelnen Scenen und Acte bis ins Einzelne aus und
schrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgen¬
stunden einiger Wochen. Ich genoß dabey das höchste
Glück, denn ich sah daß alles sehr leicht und natürlich
zu Tage kam. Allein im Gegensatz mit jenen genann¬
ten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe
treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher
ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situa¬
tionen, als eine gespannte rasch fortschreitende Handlung,
und auch nur poetisch und rhythmisch, wenn Charactere
und Situationen es erforderten. Nebenpersonen gewan¬
nen zu viel Raum, das ganze Stück zu viel Breite.

Ich theilte es den nächsten Freunden und Bekannten
mit, ward aber nicht verstanden wie ich es wünschte;
man warf mir vor: einige Scenen gehören ins Lust¬
spiel, man warf mir ferner vor: ich habe zu wenig
gelesen. Ich, eine bessere Aufnahme erwartend, war
anfänglich im Stillen beleidigt; doch nach und nach
kam ich zu der Überzeugung, daß meine Freunde nicht
so ganz unrecht hätten und daß mein Stück, wenn auch
die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl
durchdacht und mit einer gewissen Besonnenheit und Fa¬
cilität so zur Erscheinung gekommen, wie es in mir ge¬
legen, doch, dem darin entwickelten Leben nach, auf einer

unbekannt, blieb mir weiter nichts uͤbrig, als die Charac¬
tere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich
trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir
die einzelnen Scenen und Acte bis ins Einzelne aus und
ſchrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgen¬
ſtunden einiger Wochen. Ich genoß dabey das hoͤchſte
Gluͤck, denn ich ſah daß alles ſehr leicht und natuͤrlich
zu Tage kam. Allein im Gegenſatz mit jenen genann¬
ten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe
treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher
ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situa¬
tionen, als eine geſpannte raſch fortſchreitende Handlung,
und auch nur poetiſch und rhythmiſch, wenn Charactere
und Situationen es erforderten. Nebenperſonen gewan¬
nen zu viel Raum, das ganze Stuͤck zu viel Breite.

Ich theilte es den naͤchſten Freunden und Bekannten
mit, ward aber nicht verſtanden wie ich es wuͤnſchte;
man warf mir vor: einige Scenen gehoͤren ins Luſt¬
ſpiel, man warf mir ferner vor: ich habe zu wenig
geleſen. Ich, eine beſſere Aufnahme erwartend, war
anfaͤnglich im Stillen beleidigt; doch nach und nach
kam ich zu der Überzeugung, daß meine Freunde nicht
ſo ganz unrecht haͤtten und daß mein Stuͤck, wenn auch
die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl
durchdacht und mit einer gewiſſen Beſonnenheit und Fa¬
cilitaͤt ſo zur Erſcheinung gekommen, wie es in mir ge¬
legen, doch, dem darin entwickelten Leben nach, auf einer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0047" n="27"/>
unbekannt, blieb mir weiter nichts u&#x0364;brig, als die Charac¬<lb/>
tere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich<lb/>
trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir<lb/>
die einzelnen Scenen und Acte bis ins Einzelne aus und<lb/>
&#x017F;chrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgen¬<lb/>
&#x017F;tunden einiger Wochen. Ich genoß dabey das ho&#x0364;ch&#x017F;te<lb/>
Glu&#x0364;ck, denn ich &#x017F;ah daß alles &#x017F;ehr leicht und natu&#x0364;rlich<lb/>
zu Tage kam. Allein im Gegen&#x017F;atz mit jenen genann¬<lb/>
ten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe<lb/>
treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher<lb/>
ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situa¬<lb/>
tionen, als eine ge&#x017F;pannte ra&#x017F;ch fort&#x017F;chreitende Handlung,<lb/>
und auch nur poeti&#x017F;ch und rhythmi&#x017F;ch, wenn Charactere<lb/>
und Situationen es erforderten. Nebenper&#x017F;onen gewan¬<lb/>
nen zu viel Raum, das ganze Stu&#x0364;ck zu viel Breite.</p><lb/>
          <p>Ich theilte es den na&#x0364;ch&#x017F;ten Freunden und Bekannten<lb/>
mit, ward aber nicht ver&#x017F;tanden wie ich es wu&#x0364;n&#x017F;chte;<lb/>
man warf mir vor: einige Scenen geho&#x0364;ren ins Lu&#x017F;<lb/>
&#x017F;piel, man warf mir ferner vor: ich habe zu wenig<lb/>
gele&#x017F;en. Ich, eine be&#x017F;&#x017F;ere Aufnahme erwartend, war<lb/>
anfa&#x0364;nglich im Stillen beleidigt; doch nach und nach<lb/>
kam ich zu der Überzeugung, daß meine Freunde nicht<lb/>
&#x017F;o ganz unrecht ha&#x0364;tten und daß mein Stu&#x0364;ck, wenn auch<lb/>
die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl<lb/>
durchdacht und mit einer gewi&#x017F;&#x017F;en Be&#x017F;onnenheit und Fa¬<lb/>
cilita&#x0364;t &#x017F;o zur Er&#x017F;cheinung gekommen, wie es in mir ge¬<lb/>
legen, doch, dem darin entwickelten Leben nach, auf einer<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[27/0047] unbekannt, blieb mir weiter nichts uͤbrig, als die Charac¬ tere und den Gang der Handlung zu erfinden. Ich trug es wohl ein Jahr mit mir herum und bildete mir die einzelnen Scenen und Acte bis ins Einzelne aus und ſchrieb es endlich im Winter 1820 in den Morgen¬ ſtunden einiger Wochen. Ich genoß dabey das hoͤchſte Gluͤck, denn ich ſah daß alles ſehr leicht und natuͤrlich zu Tage kam. Allein im Gegenſatz mit jenen genann¬ ten Dichtern ließ ich das wirkliche Leben mir zu nahe treten, das Theater kam mir nie vor Augen. Daher ward es auch mehr eine ruhige Zeichnung von Situa¬ tionen, als eine geſpannte raſch fortſchreitende Handlung, und auch nur poetiſch und rhythmiſch, wenn Charactere und Situationen es erforderten. Nebenperſonen gewan¬ nen zu viel Raum, das ganze Stuͤck zu viel Breite. Ich theilte es den naͤchſten Freunden und Bekannten mit, ward aber nicht verſtanden wie ich es wuͤnſchte; man warf mir vor: einige Scenen gehoͤren ins Luſt¬ ſpiel, man warf mir ferner vor: ich habe zu wenig geleſen. Ich, eine beſſere Aufnahme erwartend, war anfaͤnglich im Stillen beleidigt; doch nach und nach kam ich zu der Überzeugung, daß meine Freunde nicht ſo ganz unrecht haͤtten und daß mein Stuͤck, wenn auch die Charaktere richtig gezeichnet und das Ganze wohl durchdacht und mit einer gewiſſen Beſonnenheit und Fa¬ cilitaͤt ſo zur Erſcheinung gekommen, wie es in mir ge¬ legen, doch, dem darin entwickelten Leben nach, auf einer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/47
Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/47>, abgerufen am 03.12.2024.