dichte, daß mir das Weiterlesen verleidet wurde. Ich griff dann nach seinen Balladen, wo ich denn freylich ein vorzügliches Talent gewahr wurde und recht gut sah, daß sein Ruhm einigen Grund hat."
Ich fragte darauf Goethe um seine Meinung hin¬ sichtlich der Verse zur deutschen Tragödie. "Man wird sich in Deutschland, antwortete er, schwerlich darüber vereinigen. Jeder machts wie er eben will und wie es dem Gegenstande einigermaßen gemäß ist. Der sechs¬ füßige Jambus wäre freylich am würdigsten, allein er ist für uns Deutsche zu lang, wir sind, wegen der mangelnden Beywörter, gewöhnlich schon mit fünf Füßen fertig. Die Engländer reichen wegen ihrer vielen ein¬ sylbigen Wörter noch weniger."
Goethe zeigte mir darauf einige Kupferwerke und sprach dann über die altdeutsche Baukunst und daß er mir manches der Art nach und nach vorlegen wolle.
"Man sieht in den Werken der altdeutschen Baukunst, sagte er, die Blüthe eines außerordentlichen Zustandes. Wem eine solche Blüthe unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anstaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinsieht, in das Regen der Kräfte und wie sich die Blüthe nach und nach entwik¬ kelt, der sieht die Sache mit ganz anderen Augen, der weiß was er sieht."
"Ich will dafür sorgen, daß Sie im Lauf dieses Winters in diesem wichtigen Gegenstande einige Einsicht
I. 5
dichte, daß mir das Weiterleſen verleidet wurde. Ich griff dann nach ſeinen Balladen, wo ich denn freylich ein vorzuͤgliches Talent gewahr wurde und recht gut ſah, daß ſein Ruhm einigen Grund hat.“
Ich fragte darauf Goethe um ſeine Meinung hin¬ ſichtlich der Verſe zur deutſchen Tragoͤdie. „Man wird ſich in Deutſchland, antwortete er, ſchwerlich daruͤber vereinigen. Jeder machts wie er eben will und wie es dem Gegenſtande einigermaßen gemaͤß iſt. Der ſechs¬ fuͤßige Jambus waͤre freylich am wuͤrdigſten, allein er iſt fuͤr uns Deutſche zu lang, wir ſind, wegen der mangelnden Beywoͤrter, gewoͤhnlich ſchon mit fuͤnf Fuͤßen fertig. Die Englaͤnder reichen wegen ihrer vielen ein¬ ſylbigen Woͤrter noch weniger.“
Goethe zeigte mir darauf einige Kupferwerke und ſprach dann uͤber die altdeutſche Baukunſt und daß er mir manches der Art nach und nach vorlegen wolle.
„Man ſieht in den Werken der altdeutſchen Baukunſt, ſagte er, die Bluͤthe eines außerordentlichen Zuſtandes. Wem eine ſolche Bluͤthe unmittelbar entgegentritt, der kann nichts als anſtaunen; wer aber in das geheime innere Leben der Pflanze hineinſieht, in das Regen der Kraͤfte und wie ſich die Bluͤthe nach und nach entwik¬ kelt, der ſieht die Sache mit ganz anderen Augen, der weiß was er ſieht.“
„Ich will dafuͤr ſorgen, daß Sie im Lauf dieſes Winters in dieſem wichtigen Gegenſtande einige Einſicht
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dichte, daß mir das Weiterleſen verleidet wurde. Ich
griff dann nach ſeinen Balladen, wo ich denn freylich
ein vorzuͤgliches Talent gewahr wurde und recht gut
ſah, daß ſein Ruhm einigen Grund hat.“
Ich fragte darauf Goethe um ſeine Meinung hin¬
ſichtlich der Verſe zur deutſchen Tragoͤdie. „Man wird
ſich in Deutſchland, antwortete er, ſchwerlich daruͤber
vereinigen. Jeder machts wie er eben will und wie es
dem Gegenſtande einigermaßen gemaͤß iſt. Der ſechs¬
fuͤßige Jambus waͤre freylich am wuͤrdigſten, allein er
iſt fuͤr uns Deutſche zu lang, wir ſind, wegen der
mangelnden Beywoͤrter, gewoͤhnlich ſchon mit fuͤnf Fuͤßen
fertig. Die Englaͤnder reichen wegen ihrer vielen ein¬
ſylbigen Woͤrter noch weniger.“
Goethe zeigte mir darauf einige Kupferwerke und
ſprach dann uͤber die altdeutſche Baukunſt und daß er
mir manches der Art nach und nach vorlegen wolle.
„Man ſieht in den Werken der altdeutſchen Baukunſt,
ſagte er, die Bluͤthe eines außerordentlichen Zuſtandes.
Wem eine ſolche Bluͤthe unmittelbar entgegentritt, der
kann nichts als anſtaunen; wer aber in das geheime
innere Leben der Pflanze hineinſieht, in das Regen der
Kraͤfte und wie ſich die Bluͤthe nach und nach entwik¬
kelt, der ſieht die Sache mit ganz anderen Augen, der
weiß was er ſieht.“
„Ich will dafuͤr ſorgen, daß Sie im Lauf dieſes
Winters in dieſem wichtigen Gegenſtande einige Einſicht
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/85>, abgerufen am 24.11.2024.
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