gegeben: Johann von Finnland von der Frau von Weißenthurn.
Es fehlte dem Stück nicht an wirksamen Situatio¬ nen, doch war es mit Rührendem so überladen, und ich sah überall so viel Absicht, daß es im Ganzen auf mich keinen guten Eindruck machte. Der letzte Act indeß ge¬ fiel mir sehr wohl und söhnte mich wieder aus.
In Folge dieses Stückes machte ich nachstehende Bemerkung. Von einem Dichter nur mittelmäßig ge¬ zeichnete Charactere werden bey der Theater-Darstellung gewinnen, weil die Schauspieler, als lebendige Men¬ schen, sie zu lebendigen Wesen machen und ihnen zu irgend einer Art von Individualität verhelfen. Von einem großen Dichter meisterhaft gezeichnete Charactere dagegen, die schon alle mit einer durchaus scharfen Indi¬ vidualität dastehen, müssen bey der Darstellung noth¬ wendig verlieren, weil die Schauspieler in der Regel nicht durchaus passen und die Wenigsten ihre eigene Individualität so sehr verläugnen können. Findet sich beym Schauspieler nicht ganz das Gleiche, oder besitzt er nicht die Gabe einer gänzlichen Ablegung seiner ei¬ genen Persönlichkeit, so entsteht ein Gemisch und der Character verliert seine Reinheit. Daher kommt es denn, daß ein Stück eines wirklich großen Dichters immer nur in einzelnen Figuren so zur Erscheinung kommt, wie es die ursprüngliche Intention war.
gegeben: Johann von Finnland von der Frau von Weißenthurn.
Es fehlte dem Stuͤck nicht an wirkſamen Situatio¬ nen, doch war es mit Ruͤhrendem ſo uͤberladen, und ich ſah uͤberall ſo viel Abſicht, daß es im Ganzen auf mich keinen guten Eindruck machte. Der letzte Act indeß ge¬ fiel mir ſehr wohl und ſoͤhnte mich wieder aus.
In Folge dieſes Stuͤckes machte ich nachſtehende Bemerkung. Von einem Dichter nur mittelmaͤßig ge¬ zeichnete Charactere werden bey der Theater-Darſtellung gewinnen, weil die Schauſpieler, als lebendige Men¬ ſchen, ſie zu lebendigen Weſen machen und ihnen zu irgend einer Art von Individualitaͤt verhelfen. Von einem großen Dichter meiſterhaft gezeichnete Charactere dagegen, die ſchon alle mit einer durchaus ſcharfen Indi¬ vidualitaͤt daſtehen, muͤſſen bey der Darſtellung noth¬ wendig verlieren, weil die Schauſpieler in der Regel nicht durchaus paſſen und die Wenigſten ihre eigene Individualitaͤt ſo ſehr verlaͤugnen koͤnnen. Findet ſich beym Schauſpieler nicht ganz das Gleiche, oder beſitzt er nicht die Gabe einer gaͤnzlichen Ablegung ſeiner ei¬ genen Perſoͤnlichkeit, ſo entſteht ein Gemiſch und der Character verliert ſeine Reinheit. Daher kommt es denn, daß ein Stuͤck eines wirklich großen Dichters immer nur in einzelnen Figuren ſo zur Erſcheinung kommt, wie es die urſpruͤngliche Intention war.
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gegeben: Johann von Finnland von der Frau
von Weißenthurn.
Es fehlte dem Stuͤck nicht an wirkſamen Situatio¬
nen, doch war es mit Ruͤhrendem ſo uͤberladen, und ich
ſah uͤberall ſo viel Abſicht, daß es im Ganzen auf mich
keinen guten Eindruck machte. Der letzte Act indeß ge¬
fiel mir ſehr wohl und ſoͤhnte mich wieder aus.
In Folge dieſes Stuͤckes machte ich nachſtehende
Bemerkung. Von einem Dichter nur mittelmaͤßig ge¬
zeichnete Charactere werden bey der Theater-Darſtellung
gewinnen, weil die Schauſpieler, als lebendige Men¬
ſchen, ſie zu lebendigen Weſen machen und ihnen zu
irgend einer Art von Individualitaͤt verhelfen. Von
einem großen Dichter meiſterhaft gezeichnete Charactere
dagegen, die ſchon alle mit einer durchaus ſcharfen Indi¬
vidualitaͤt daſtehen, muͤſſen bey der Darſtellung noth¬
wendig verlieren, weil die Schauſpieler in der Regel
nicht durchaus paſſen und die Wenigſten ihre eigene
Individualitaͤt ſo ſehr verlaͤugnen koͤnnen. Findet ſich
beym Schauſpieler nicht ganz das Gleiche, oder beſitzt
er nicht die Gabe einer gaͤnzlichen Ablegung ſeiner ei¬
genen Perſoͤnlichkeit, ſo entſteht ein Gemiſch und der
Character verliert ſeine Reinheit. Daher kommt es denn,
daß ein Stuͤck eines wirklich großen Dichters immer
nur in einzelnen Figuren ſo zur Erſcheinung kommt,
wie es die urſpruͤngliche Intention war.
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 1. Leipzig, 1836, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe01_1836/96>, abgerufen am 21.11.2024.
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