worden und daß man nie eine solche Tendenz erkannt, als bis man sich bereits davon frey gemacht."
Woran aber, sagte ich, soll man sehen und wissen daß eine Tendenz eine falsche sey?
"Die falsche Tendenz, antwortete Goethe, ist nicht productiv, und wenn sie es ist, so ist das Hervorge¬ brachte von keinem Werth. Dieses an Andern gewahr zu werden ist nicht so gar schwer, aber an sich selber, ist ein eigenes Ding und will eine große Freyheit des Geistes. Und selbst das Erkennen hilft nicht immer; man zaudert und zweifelt und kann sich nicht entschlie¬ ßen, so wie es schwer hält, sich von einem geliebten Mädchen los zu machen, von deren Untreue man längst wiederholte Beweise hat. Ich sage dieses, indem ich bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einsah, daß meine Tendenz zur bildenden Kunst eine falsche sey, und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich da¬ von loszumachen."
Aber doch, sagte ich, hat Ihnen diese Tendenz so vielen Vortheil gebracht, daß man sie kaum eine falsche nennen möchte.
"Ich habe an Einsicht gewonnen, sagte Goethe, weßhalb ich mich auch darüber beruhigen kann. Und das ist der Vortheil, den wir aus jeder falschen Ten¬ denz ziehen. Wer mit unzulänglichem Talent sich in der Musik bemühet, wird freylich nie ein Meister wer¬ den, aber er wird dabey lernen, dasjenige zu erkennen
worden und daß man nie eine ſolche Tendenz erkannt, als bis man ſich bereits davon frey gemacht.“
Woran aber, ſagte ich, ſoll man ſehen und wiſſen daß eine Tendenz eine falſche ſey?
„Die falſche Tendenz, antwortete Goethe, iſt nicht productiv, und wenn ſie es iſt, ſo iſt das Hervorge¬ brachte von keinem Werth. Dieſes an Andern gewahr zu werden iſt nicht ſo gar ſchwer, aber an ſich ſelber, iſt ein eigenes Ding und will eine große Freyheit des Geiſtes. Und ſelbſt das Erkennen hilft nicht immer; man zaudert und zweifelt und kann ſich nicht entſchlie¬ ßen, ſo wie es ſchwer haͤlt, ſich von einem geliebten Maͤdchen los zu machen, von deren Untreue man laͤngſt wiederholte Beweiſe hat. Ich ſage dieſes, indem ich bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einſah, daß meine Tendenz zur bildenden Kunſt eine falſche ſey, und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich da¬ von loszumachen.“
Aber doch, ſagte ich, hat Ihnen dieſe Tendenz ſo vielen Vortheil gebracht, daß man ſie kaum eine falſche nennen moͤchte.
„Ich habe an Einſicht gewonnen, ſagte Goethe, weßhalb ich mich auch daruͤber beruhigen kann. Und das iſt der Vortheil, den wir aus jeder falſchen Ten¬ denz ziehen. Wer mit unzulaͤnglichem Talent ſich in der Muſik bemuͤhet, wird freylich nie ein Meiſter wer¬ den, aber er wird dabey lernen, dasjenige zu erkennen
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worden und daß man nie eine ſolche Tendenz erkannt,
als bis man ſich bereits davon frey gemacht.“
Woran aber, ſagte ich, ſoll man ſehen und wiſſen
daß eine Tendenz eine falſche ſey?
„Die falſche Tendenz, antwortete Goethe, iſt nicht
productiv, und wenn ſie es iſt, ſo iſt das Hervorge¬
brachte von keinem Werth. Dieſes an Andern gewahr
zu werden iſt nicht ſo gar ſchwer, aber an ſich ſelber,
iſt ein eigenes Ding und will eine große Freyheit des
Geiſtes. Und ſelbſt das Erkennen hilft nicht immer;
man zaudert und zweifelt und kann ſich nicht entſchlie¬
ßen, ſo wie es ſchwer haͤlt, ſich von einem geliebten
Maͤdchen los zu machen, von deren Untreue man laͤngſt
wiederholte Beweiſe hat. Ich ſage dieſes, indem ich
bedenke, wie viele Jahre es gebrauchte, bis ich einſah,
daß meine Tendenz zur bildenden Kunſt eine falſche ſey,
und wie viele andere, nachdem ich es erkannt, mich da¬
von loszumachen.“
Aber doch, ſagte ich, hat Ihnen dieſe Tendenz ſo
vielen Vortheil gebracht, daß man ſie kaum eine falſche
nennen moͤchte.
„Ich habe an Einſicht gewonnen, ſagte Goethe,
weßhalb ich mich auch daruͤber beruhigen kann. Und
das iſt der Vortheil, den wir aus jeder falſchen Ten¬
denz ziehen. Wer mit unzulaͤnglichem Talent ſich in
der Muſik bemuͤhet, wird freylich nie ein Meiſter wer¬
den, aber er wird dabey lernen, dasjenige zu erkennen
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 139. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/149>, abgerufen am 21.11.2024.
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