nicht eher auszusprechen, als bis die Sonne wirklich auf dem Punkt stand von selber zu erscheinen."
Wir sprachen noch Vieles über den Faust und dessen Composition, so wie über verwandte Dinge.
Goethe war eine Weile in stilles Nachdenken ver¬ sunken; dann begann er folgendermaßen.
"Wenn man alt ist, sagte er, denkt man über die weltlichen Dinge anders als da man jung war. So kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Dämonen, um die Menschheit zu necken und zum Besten zu haben, mitunter einzelne Figuren hinstellen, die so anlockend sind, daß jeder nach ihnen strebt, und so groß, daß niemand sie erreicht. So stellten sie den Raphael hin, bey dem Denken und Thun gleich vollkommen war; einzelne treffliche Nachkommen haben sich ihm genähert, aber erreicht hat ihn niemand. So stellten sie den Mo¬ zart hin, als etwas Unerreichbares in der Musik. Und so in der Poesie Shakspeare. Ich weiß was Sie mir gegen diesen sagen können, aber ich meine nur das Na¬ turell, das große Angeborene der Natur. So steht Napoleon unerreichbar da. Daß die Russen sich ge¬ mäßigt haben und nicht nach Constantinopel hineinge¬ gangen sind, ist zwar sehr groß, aber auch ein solcher Zug findet sich in Napoleon, denn auch er hat sich ge¬ mäßigt und ist nicht nach Rom gegangen."
An dieses reiche Thema knüpfte sich viel Verwandtes; bey mir selbst aber dachte ich im Stillen, daß auch mit
nicht eher auszuſprechen, als bis die Sonne wirklich auf dem Punkt ſtand von ſelber zu erſcheinen.“
Wir ſprachen noch Vieles uͤber den Fauſt und deſſen Compoſition, ſo wie uͤber verwandte Dinge.
Goethe war eine Weile in ſtilles Nachdenken ver¬ ſunken; dann begann er folgendermaßen.
„Wenn man alt iſt, ſagte er, denkt man uͤber die weltlichen Dinge anders als da man jung war. So kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die Daͤmonen, um die Menſchheit zu necken und zum Beſten zu haben, mitunter einzelne Figuren hinſtellen, die ſo anlockend ſind, daß jeder nach ihnen ſtrebt, und ſo groß, daß niemand ſie erreicht. So ſtellten ſie den Raphael hin, bey dem Denken und Thun gleich vollkommen war; einzelne treffliche Nachkommen haben ſich ihm genaͤhert, aber erreicht hat ihn niemand. So ſtellten ſie den Mo¬ zart hin, als etwas Unerreichbares in der Muſik. Und ſo in der Poeſie Shakſpeare. Ich weiß was Sie mir gegen dieſen ſagen koͤnnen, aber ich meine nur das Na¬ turell, das große Angeborene der Natur. So ſteht Napoleon unerreichbar da. Daß die Ruſſen ſich ge¬ maͤßigt haben und nicht nach Conſtantinopel hineinge¬ gangen ſind, iſt zwar ſehr groß, aber auch ein ſolcher Zug findet ſich in Napoleon, denn auch er hat ſich ge¬ maͤßigt und iſt nicht nach Rom gegangen.“
An dieſes reiche Thema knuͤpfte ſich viel Verwandtes; bey mir ſelbſt aber dachte ich im Stillen, daß auch mit
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nicht eher auszuſprechen, als bis die Sonne wirklich
auf dem Punkt ſtand von ſelber zu erſcheinen.“
Wir ſprachen noch Vieles uͤber den Fauſt und deſſen
Compoſition, ſo wie uͤber verwandte Dinge.
Goethe war eine Weile in ſtilles Nachdenken ver¬
ſunken; dann begann er folgendermaßen.
„Wenn man alt iſt, ſagte er, denkt man uͤber die
weltlichen Dinge anders als da man jung war. So
kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß die
Daͤmonen, um die Menſchheit zu necken und zum Beſten
zu haben, mitunter einzelne Figuren hinſtellen, die ſo
anlockend ſind, daß jeder nach ihnen ſtrebt, und ſo groß,
daß niemand ſie erreicht. So ſtellten ſie den Raphael
hin, bey dem Denken und Thun gleich vollkommen war;
einzelne treffliche Nachkommen haben ſich ihm genaͤhert,
aber erreicht hat ihn niemand. So ſtellten ſie den Mo¬
zart hin, als etwas Unerreichbares in der Muſik. Und
ſo in der Poeſie Shakſpeare. Ich weiß was Sie mir
gegen dieſen ſagen koͤnnen, aber ich meine nur das Na¬
turell, das große Angeborene der Natur. So ſteht
Napoleon unerreichbar da. Daß die Ruſſen ſich ge¬
maͤßigt haben und nicht nach Conſtantinopel hineinge¬
gangen ſind, iſt zwar ſehr groß, aber auch ein ſolcher
Zug findet ſich in Napoleon, denn auch er hat ſich ge¬
maͤßigt und iſt nicht nach Rom gegangen.“
An dieſes reiche Thema knuͤpfte ſich viel Verwandtes;
bey mir ſelbſt aber dachte ich im Stillen, daß auch mit
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 153. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/163>, abgerufen am 23.11.2024.
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