Christus dachte einen alleinigen Gott, dem er alle die Eigenschaften beylegte, die er in sich selbst als Voll¬ kommenheiten empfand. Er ward das Wesen seines eigenen schönen Innern, voll Güte und Liebe wie er selber, und ganz geeignet, daß gute Menschen sich ihm vertrauensvoll hingeben und diese Idee, als die süßeste Verknüpfung nach oben, in sich aufnehmen.
Da nun aber das große Wesen, welches wir die Gottheit nennen, sich nicht bloß im Menschen, sondern auch in einer reichen gewaltigen Natur, und in mächti¬ gen Weltbegebenheiten ausspricht, so kann auch natür¬ lich eine nach menschlichen Eigenschaften von ihm gebil¬ dete Vorstellung nicht ausreichen, und der Aufmerkende wird bald auf Unzulänglichkeiten und Widersprüche sto¬ ßen, die ihn in Zweifel, ja in Verzweiflung bringen, wenn er nicht entweder klein genug ist, sich durch eine künstliche Ausrede beschwichtigen zu lassen, oder groß genug, sich auf den Standpunct einer höheren Ansicht zu erheben.
Einen solchen Standpunct fand Goethe früh in Spinoza, und er erkennet mit Freuden, wie sehr die Ansichten dieses großen Denkers den Bedürfnissen seiner Jugend gemäß gewesen. Er fand in ihm sich selber, und so konnte er sich auch an ihm auf das Schönste befestigen.
Und da nun solche Ansichten nicht subjectiver Art waren, sondern in den Werken und Äußerungen Gottes
Chriſtus dachte einen alleinigen Gott, dem er alle die Eigenſchaften beylegte, die er in ſich ſelbſt als Voll¬ kommenheiten empfand. Er ward das Weſen ſeines eigenen ſchoͤnen Innern, voll Guͤte und Liebe wie er ſelber, und ganz geeignet, daß gute Menſchen ſich ihm vertrauensvoll hingeben und dieſe Idee, als die ſuͤßeſte Verknuͤpfung nach oben, in ſich aufnehmen.
Da nun aber das große Weſen, welches wir die Gottheit nennen, ſich nicht bloß im Menſchen, ſondern auch in einer reichen gewaltigen Natur, und in maͤchti¬ gen Weltbegebenheiten ausſpricht, ſo kann auch natuͤr¬ lich eine nach menſchlichen Eigenſchaften von ihm gebil¬ dete Vorſtellung nicht ausreichen, und der Aufmerkende wird bald auf Unzulaͤnglichkeiten und Widerſpruͤche ſto¬ ßen, die ihn in Zweifel, ja in Verzweiflung bringen, wenn er nicht entweder klein genug iſt, ſich durch eine kuͤnſtliche Ausrede beſchwichtigen zu laſſen, oder groß genug, ſich auf den Standpunct einer hoͤheren Anſicht zu erheben.
Einen ſolchen Standpunct fand Goethe fruͤh in Spinoza, und er erkennet mit Freuden, wie ſehr die Anſichten dieſes großen Denkers den Beduͤrfniſſen ſeiner Jugend gemaͤß geweſen. Er fand in ihm ſich ſelber, und ſo konnte er ſich auch an ihm auf das Schoͤnſte befeſtigen.
Und da nun ſolche Anſichten nicht ſubjectiver Art waren, ſondern in den Werken und Äußerungen Gottes
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Chriſtus dachte einen alleinigen Gott, dem er alle
die Eigenſchaften beylegte, die er in ſich ſelbſt als Voll¬
kommenheiten empfand. Er ward das Weſen ſeines
eigenen ſchoͤnen Innern, voll Guͤte und Liebe wie er
ſelber, und ganz geeignet, daß gute Menſchen ſich ihm
vertrauensvoll hingeben und dieſe Idee, als die ſuͤßeſte
Verknuͤpfung nach oben, in ſich aufnehmen.
Da nun aber das große Weſen, welches wir die
Gottheit nennen, ſich nicht bloß im Menſchen, ſondern
auch in einer reichen gewaltigen Natur, und in maͤchti¬
gen Weltbegebenheiten ausſpricht, ſo kann auch natuͤr¬
lich eine nach menſchlichen Eigenſchaften von ihm gebil¬
dete Vorſtellung nicht ausreichen, und der Aufmerkende
wird bald auf Unzulaͤnglichkeiten und Widerſpruͤche ſto¬
ßen, die ihn in Zweifel, ja in Verzweiflung bringen,
wenn er nicht entweder klein genug iſt, ſich durch eine
kuͤnſtliche Ausrede beſchwichtigen zu laſſen, oder groß
genug, ſich auf den Standpunct einer hoͤheren Anſicht
zu erheben.
Einen ſolchen Standpunct fand Goethe fruͤh in
Spinoza, und er erkennet mit Freuden, wie ſehr die
Anſichten dieſes großen Denkers den Beduͤrfniſſen ſeiner
Jugend gemaͤß geweſen. Er fand in ihm ſich ſelber,
und ſo konnte er ſich auch an ihm auf das Schoͤnſte
befeſtigen.
Und da nun ſolche Anſichten nicht ſubjectiver Art
waren, ſondern in den Werken und Äußerungen Gottes
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/306>, abgerufen am 23.11.2024.
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