Das Resultat meiner Beobachtungen ging demnach dahin, daß auch Goethe's Lehre von den farbigen Dop¬ pelschatten nicht durchaus richtig sey, daß bey diesem Phänomen mehr Objectives einwirke als von ihm be¬ obachtet worden, und daß das Gesetz der subjectiven Forderung dabey nur als etwas Secundäres in Betracht komme.
Wäre das menschliche Auge überall so empfindlich und empfänglich, daß es bey der leisesten Berührung von irgend einer Farbe sogleich disponirt wäre die ent¬ gegengesetzte hervorzubringen; so würde das Auge stets eine Farbe in die andere übertragen, und es würde das unangenehmste Gemisch entstehen.
Dieß ist aber glücklicher Weise nicht so, vielmehr ist ein gesundes Auge so organisirt, daß es die gefor¬ derten Farben entweder gar nicht bemerkt, oder, darauf aufmerksam gemacht, sie doch nur mit Mühe hervor¬ bringt; ja daß diese Operation sogar einige Übung und Geschicklichkeit verlangt, ehe sie, selbst unter günstigen Bedingungen, gelingen will.
Das eigentlich Charakteristische solcher subjectiven Erscheinungen, daß nämlich das Auge zu ihrer Hervor¬ bringung gewissermaßen einen mächtigen Reiz verlangt, und daß, wenn sie entstanden, sie keine Stätigkeit ha¬ ben, sondern flüchtige, schnell verschwindende Wesen sind, ist bey den blauen Schatten im Schnee, so wie bey den farbigen Doppelschatten, von Goethe zu sehr
Das Reſultat meiner Beobachtungen ging demnach dahin, daß auch Goethe's Lehre von den farbigen Dop¬ pelſchatten nicht durchaus richtig ſey, daß bey dieſem Phaͤnomen mehr Objectives einwirke als von ihm be¬ obachtet worden, und daß das Geſetz der ſubjectiven Forderung dabey nur als etwas Secundaͤres in Betracht komme.
Waͤre das menſchliche Auge uͤberall ſo empfindlich und empfaͤnglich, daß es bey der leiſeſten Beruͤhrung von irgend einer Farbe ſogleich disponirt waͤre die ent¬ gegengeſetzte hervorzubringen; ſo wuͤrde das Auge ſtets eine Farbe in die andere uͤbertragen, und es wuͤrde das unangenehmſte Gemiſch entſtehen.
Dieß iſt aber gluͤcklicher Weiſe nicht ſo, vielmehr iſt ein geſundes Auge ſo organiſirt, daß es die gefor¬ derten Farben entweder gar nicht bemerkt, oder, darauf aufmerkſam gemacht, ſie doch nur mit Muͤhe hervor¬ bringt; ja daß dieſe Operation ſogar einige Übung und Geſchicklichkeit verlangt, ehe ſie, ſelbſt unter guͤnſtigen Bedingungen, gelingen will.
Das eigentlich Charakteriſtiſche ſolcher ſubjectiven Erſcheinungen, daß naͤmlich das Auge zu ihrer Hervor¬ bringung gewiſſermaßen einen maͤchtigen Reiz verlangt, und daß, wenn ſie entſtanden, ſie keine Staͤtigkeit ha¬ ben, ſondern fluͤchtige, ſchnell verſchwindende Weſen ſind, iſt bey den blauen Schatten im Schnee, ſo wie bey den farbigen Doppelſchatten, von Goethe zu ſehr
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Das Reſultat meiner Beobachtungen ging demnach
dahin, daß auch Goethe's Lehre von den farbigen Dop¬
pelſchatten nicht durchaus richtig ſey, daß bey dieſem
Phaͤnomen mehr Objectives einwirke als von ihm be¬
obachtet worden, und daß das Geſetz der ſubjectiven
Forderung dabey nur als etwas Secundaͤres in Betracht
komme.
Waͤre das menſchliche Auge uͤberall ſo empfindlich
und empfaͤnglich, daß es bey der leiſeſten Beruͤhrung
von irgend einer Farbe ſogleich disponirt waͤre die ent¬
gegengeſetzte hervorzubringen; ſo wuͤrde das Auge ſtets
eine Farbe in die andere uͤbertragen, und es wuͤrde das
unangenehmſte Gemiſch entſtehen.
Dieß iſt aber gluͤcklicher Weiſe nicht ſo, vielmehr
iſt ein geſundes Auge ſo organiſirt, daß es die gefor¬
derten Farben entweder gar nicht bemerkt, oder, darauf
aufmerkſam gemacht, ſie doch nur mit Muͤhe hervor¬
bringt; ja daß dieſe Operation ſogar einige Übung und
Geſchicklichkeit verlangt, ehe ſie, ſelbſt unter guͤnſtigen
Bedingungen, gelingen will.
Das eigentlich Charakteriſtiſche ſolcher ſubjectiven
Erſcheinungen, daß naͤmlich das Auge zu ihrer Hervor¬
bringung gewiſſermaßen einen maͤchtigen Reiz verlangt,
und daß, wenn ſie entſtanden, ſie keine Staͤtigkeit ha¬
ben, ſondern fluͤchtige, ſchnell verſchwindende Weſen
ſind, iſt bey den blauen Schatten im Schnee, ſo wie
bey den farbigen Doppelſchatten, von Goethe zu ſehr
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 2. Leipzig, 1836, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe02_1836/92>, abgerufen am 26.11.2024.
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