Pfeil. "Noch einmal!" sagte Goethe. Er zielte jetzt in horizontaler Richtung den sandigen Weg des Gartens hinab. Der Pfeil hielt sich etwa dreißig Schritt ziemlich gut, dann senkte er sich und schwirrte am Boden hin. Goethe gefiel mir bei diesem Schießen mit Pfeil und Bogen über die Maßen. Ich dachte an die Verse:
Läßt mich das Alter im Stich? Bin ich wieder ein Kind?
Ich brachte ihm den Pfeil zurück. Er bat mich, auch einmal in horizontaler Richtung zu schießen, und gab mir zum Ziel einen Fleck im Fensterladen seines Arbeitszimmers. Ich schoß. Der Pfeil war nicht weit vom Ziele, aber so tief in das weiche Holz ge¬ fahren, daß es mir nicht gelang, ihn wieder heraus zu bringen. "Lassen Sie ihn stecken, sagte Goethe, er soll mir einige Tage als eine Erinnerung an unsere Späße dienen."
Wir gingen bei dem schönen Wetter im Garten auf und ab; dann setzten wir uns auf eine Bank, mit dem Rücken gegen das junge Laub einer dicken Hecke. Wir sprachen über den Bogen des Odysseus, über die Helden des Homer, dann über die griechischen Tragiker, und endlich über die vielverbreitete Meinung, daß das griechische Theater durch Euripides in Verfall gerathen. Goethe war dieser Meinung keineswegs.
"Ueberhaupt, sagte er, bin ich nicht der Ansicht,
Pfeil. „Noch einmal!“ ſagte Goethe. Er zielte jetzt in horizontaler Richtung den ſandigen Weg des Gartens hinab. Der Pfeil hielt ſich etwa dreißig Schritt ziemlich gut, dann ſenkte er ſich und ſchwirrte am Boden hin. Goethe gefiel mir bei dieſem Schießen mit Pfeil und Bogen über die Maßen. Ich dachte an die Verſe:
Läßt mich das Alter im Stich? Bin ich wieder ein Kind?
Ich brachte ihm den Pfeil zurück. Er bat mich, auch einmal in horizontaler Richtung zu ſchießen, und gab mir zum Ziel einen Fleck im Fenſterladen ſeines Arbeitszimmers. Ich ſchoß. Der Pfeil war nicht weit vom Ziele, aber ſo tief in das weiche Holz ge¬ fahren, daß es mir nicht gelang, ihn wieder heraus zu bringen. „Laſſen Sie ihn ſtecken, ſagte Goethe, er ſoll mir einige Tage als eine Erinnerung an unſere Späße dienen.“
Wir gingen bei dem ſchönen Wetter im Garten auf und ab; dann ſetzten wir uns auf eine Bank, mit dem Rücken gegen das junge Laub einer dicken Hecke. Wir ſprachen über den Bogen des Odyſſeus, über die Helden des Homer, dann über die griechiſchen Tragiker, und endlich über die vielverbreitete Meinung, daß das griechiſche Theater durch Euripides in Verfall gerathen. Goethe war dieſer Meinung keineswegs.
„Ueberhaupt, ſagte er, bin ich nicht der Anſicht,
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Pfeil. „Noch einmal!“ ſagte Goethe. Er zielte jetzt
in horizontaler Richtung den ſandigen Weg des
Gartens hinab. Der Pfeil hielt ſich etwa dreißig Schritt
ziemlich gut, dann ſenkte er ſich und ſchwirrte am
Boden hin. Goethe gefiel mir bei dieſem Schießen mit
Pfeil und Bogen über die Maßen. Ich dachte an die
Verſe:
Läßt mich das Alter im Stich?
Bin ich wieder ein Kind?
Ich brachte ihm den Pfeil zurück. Er bat mich,
auch einmal in horizontaler Richtung zu ſchießen, und
gab mir zum Ziel einen Fleck im Fenſterladen ſeines
Arbeitszimmers. Ich ſchoß. Der Pfeil war nicht
weit vom Ziele, aber ſo tief in das weiche Holz ge¬
fahren, daß es mir nicht gelang, ihn wieder heraus
zu bringen. „Laſſen Sie ihn ſtecken, ſagte Goethe, er
ſoll mir einige Tage als eine Erinnerung an unſere
Späße dienen.“
Wir gingen bei dem ſchönen Wetter im Garten
auf und ab; dann ſetzten wir uns auf eine Bank, mit
dem Rücken gegen das junge Laub einer dicken Hecke.
Wir ſprachen über den Bogen des Odyſſeus, über die
Helden des Homer, dann über die griechiſchen Tragiker,
und endlich über die vielverbreitete Meinung, daß das
griechiſche Theater durch Euripides in Verfall gerathen.
Goethe war dieſer Meinung keineswegs.
„Ueberhaupt, ſagte er, bin ich nicht der Anſicht,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/131>, abgerufen am 24.11.2024.
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