Goethe sprach sodann über den Charakter des Kreon und der Ismene, und über die Nothwendigkeit dieser beiden Figuren zur Entwickelung der schönen Seele der Heldin.
"Alles Edle, sagte er, ist an sich stiller Natur und scheint zu schlafen, bis es durch Widerspruch geweckt und herausgefordert wird. Ein solcher Widerspruch ist Kreon, welcher theils der Antigone wegen da ist, damit sich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer Seite liegt, an ihm hervorkehre, theils aber um sein selbst willen, damit sein unseliger Irrthum uns als ein Hassenswürdiges erscheine."
"Da aber Sophokles uns das hohe Innere seiner Heldin auch vor der That zeigen wollte, so mußte noch ein anderer Widerspruch daseyn, woran sich ihr Charakter entwickeln konnte, und das ist die Schwester Ismene. In dieser hat der Dichter uns nebenbei ein schönes Maaß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein solches Maaß weit übersteigende Höhe der Antigone desto auffallender sichtbar wird."
Das Gespräch wendete sich auf dramatische Schrift¬ steller im Allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung auf die große Masse des Volkes von ihnen ausgehe und ausgehen könne.
"Ein großer dramatischer Dichter, sagte Goethe, wenn er zugleich productiv ist und ihm eine mächtige edle Gesinnung beiwohnt, die alle seine Werke durch¬
Goethe ſprach ſodann über den Charakter des Kreon und der Ismene, und über die Nothwendigkeit dieſer beiden Figuren zur Entwickelung der ſchönen Seele der Heldin.
„Alles Edle, ſagte er, iſt an ſich ſtiller Natur und ſcheint zu ſchlafen, bis es durch Widerſpruch geweckt und herausgefordert wird. Ein ſolcher Widerſpruch iſt Kreon, welcher theils der Antigone wegen da iſt, damit ſich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer Seite liegt, an ihm hervorkehre, theils aber um ſein ſelbſt willen, damit ſein unſeliger Irrthum uns als ein Haſſenswürdiges erſcheine.“
„Da aber Sophokles uns das hohe Innere ſeiner Heldin auch vor der That zeigen wollte, ſo mußte noch ein anderer Widerſpruch daſeyn, woran ſich ihr Charakter entwickeln konnte, und das iſt die Schweſter Ismene. In dieſer hat der Dichter uns nebenbei ein ſchönes Maaß des Gewöhnlichen gegeben, woran uns die ein ſolches Maaß weit überſteigende Höhe der Antigone deſto auffallender ſichtbar wird.“
Das Geſpräch wendete ſich auf dramatiſche Schrift¬ ſteller im Allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung auf die große Maſſe des Volkes von ihnen ausgehe und ausgehen könne.
„Ein großer dramatiſcher Dichter, ſagte Goethe, wenn er zugleich productiv iſt und ihm eine mächtige edle Geſinnung beiwohnt, die alle ſeine Werke durch¬
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Goethe ſprach ſodann über den Charakter des Kreon
und der Ismene, und über die Nothwendigkeit dieſer
beiden Figuren zur Entwickelung der ſchönen Seele der
Heldin.
„Alles Edle, ſagte er, iſt an ſich ſtiller Natur und
ſcheint zu ſchlafen, bis es durch Widerſpruch geweckt
und herausgefordert wird. Ein ſolcher Widerſpruch iſt
Kreon, welcher theils der Antigone wegen da iſt, damit
ſich ihre edle Natur und das Recht, was auf ihrer
Seite liegt, an ihm hervorkehre, theils aber um ſein
ſelbſt willen, damit ſein unſeliger Irrthum uns als ein
Haſſenswürdiges erſcheine.“
„Da aber Sophokles uns das hohe Innere ſeiner
Heldin auch vor der That zeigen wollte, ſo mußte
noch ein anderer Widerſpruch daſeyn, woran ſich ihr
Charakter entwickeln konnte, und das iſt die Schweſter
Ismene. In dieſer hat der Dichter uns nebenbei
ein ſchönes Maaß des Gewöhnlichen gegeben, woran
uns die ein ſolches Maaß weit überſteigende Höhe der
Antigone deſto auffallender ſichtbar wird.“
Das Geſpräch wendete ſich auf dramatiſche Schrift¬
ſteller im Allgemeinen, und welche bedeutende Wirkung
auf die große Maſſe des Volkes von ihnen ausgehe
und ausgehen könne.
„Ein großer dramatiſcher Dichter, ſagte Goethe,
wenn er zugleich productiv iſt und ihm eine mächtige
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/165>, abgerufen am 25.11.2024.
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