ist, so sage ich zugleich, es sey höher als die Natur, so sage ich, es sey der kühne Griff des Meisters, wo¬ durch er auf geniale Weise an den Tag legt, daß die Kunst der natürlichen Nothwendigkeit nicht durchaus unterworfen ist, sondern ihre eigenen Gesetze hat."
"Der Künstler, fuhr Goethe fort, muß freilich die Natur im Einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Thieres nichts willkürlich ändern, so daß dadurch der eigenthümliche Charakter verletzt würde. Denn das hieße die Natur vernichten. Allein in den höheren Regionen des künstlerischen Verfah¬ rens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier sogar zu Fictionen schreiten, wie Rubens in dieser Landschaft mit dem doppelten Lichte gethan."
"Der Künstler hat zur Natur ein zwiefaches Ver¬ hältniß: er ist ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er ist ihr Sklave, insofern er mit irdischen Mitteln wirken muß, um verstanden zu werden; ihr Herr aber, insofern er diese irdischen Mittel seinen höheren Intentionen unterwirft und ihnen dienstbar macht."
"Der Künstler will zur Welt durch ein Ganzes sprechen; dieses Ganze aber findet er nicht in der Na¬ tur, sondern es ist die Frucht seines eigenen Geistes, oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchten¬ den göttlichen Odems."
iſt, ſo ſage ich zugleich, es ſey höher als die Natur, ſo ſage ich, es ſey der kühne Griff des Meiſters, wo¬ durch er auf geniale Weiſe an den Tag legt, daß die Kunſt der natürlichen Nothwendigkeit nicht durchaus unterworfen iſt, ſondern ihre eigenen Geſetze hat.“
„Der Künſtler, fuhr Goethe fort, muß freilich die Natur im Einzelnen treu und fromm nachbilden, er darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen und Muskeln eines Thieres nichts willkürlich ändern, ſo daß dadurch der eigenthümliche Charakter verletzt würde. Denn das hieße die Natur vernichten. Allein in den höheren Regionen des künſtleriſchen Verfah¬ rens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird, hat er ein freieres Spiel, und er darf hier ſogar zu Fictionen ſchreiten, wie Rubens in dieſer Landſchaft mit dem doppelten Lichte gethan.“
„Der Künſtler hat zur Natur ein zwiefaches Ver¬ hältniß: er iſt ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er iſt ihr Sklave, inſofern er mit irdiſchen Mitteln wirken muß, um verſtanden zu werden; ihr Herr aber, inſofern er dieſe irdiſchen Mittel ſeinen höheren Intentionen unterwirft und ihnen dienſtbar macht.“
„Der Künſtler will zur Welt durch ein Ganzes ſprechen; dieſes Ganze aber findet er nicht in der Na¬ tur, ſondern es iſt die Frucht ſeines eigenen Geiſtes, oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchten¬ den göttlichen Odems.“
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iſt, ſo ſage ich zugleich, es ſey höher als die Natur,
ſo ſage ich, es ſey der kühne Griff des Meiſters, wo¬
durch er auf geniale Weiſe an den Tag legt, daß die
Kunſt der natürlichen Nothwendigkeit nicht durchaus
unterworfen iſt, ſondern ihre eigenen Geſetze hat.“
„Der Künſtler, fuhr Goethe fort, muß freilich die
Natur im Einzelnen treu und fromm nachbilden, er
darf in dem Knochenbau und der Lage von Sehnen
und Muskeln eines Thieres nichts willkürlich ändern,
ſo daß dadurch der eigenthümliche Charakter verletzt
würde. Denn das hieße die Natur vernichten. Allein
in den höheren Regionen des künſtleriſchen Verfah¬
rens, wodurch ein Bild zum eigentlichen Bilde wird,
hat er ein freieres Spiel, und er darf hier ſogar zu
Fictionen ſchreiten, wie Rubens in dieſer Landſchaft
mit dem doppelten Lichte gethan.“
„Der Künſtler hat zur Natur ein zwiefaches Ver¬
hältniß: er iſt ihr Herr und ihr Sklave zugleich. Er
iſt ihr Sklave, inſofern er mit irdiſchen Mitteln wirken
muß, um verſtanden zu werden; ihr Herr aber, inſofern
er dieſe irdiſchen Mittel ſeinen höheren Intentionen
unterwirft und ihnen dienſtbar macht.“
„Der Künſtler will zur Welt durch ein Ganzes
ſprechen; dieſes Ganze aber findet er nicht in der Na¬
tur, ſondern es iſt die Frucht ſeines eigenen Geiſtes,
oder, wenn Sie wollen, des Anwehens eines befruchten¬
den göttlichen Odems.“
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/176>, abgerufen am 25.11.2024.
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