Ich war diesen Vormittag einen Augenblick bei Goethe, um mich im Namen der Frau Großherzogin nach seinem Befinden zu erkundigen. Ich fand ihn betrübt und gedankenvoll und von der gestrigen etwas gewaltsamen Aufgeregtheit keine Spur. Er schien die Lücke, die der Tod in ein funfzigjähriges freundschaft¬ liches Verhältniß gerissen, heute tief zu empfinden. "Ich muß mit Gewalt arbeiten, sagte er, um mich oben zu halten und mich in diese plötzliche Trennung zu schicken. Der Tod ist doch etwas so Seltsames, daß man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns theuren Gegenstande nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes ein¬ tritt. Er ist gewissermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieser Uebergang aus einer uns bekannten Existenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wissen, ist etwas so Gewalt¬ sames, daß es für die Zurückbleibenden nicht ohne die tiefste Erschütterung abgeht".
Freitag, den 5. März 1830*.
Eine nahe Verwandte der Jugendgeliebten Goethe's, Fräulein von Türkheim, war einige Zeit in Weimar. Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über ihre Abreise aus. Sie ist so jung, sagte ich, und zeigt eine so erhabene Gesinnung und einen so reifen Geist,
Montag, den 15. Februar 1830*.
Ich war dieſen Vormittag einen Augenblick bei Goethe, um mich im Namen der Frau Großherzogin nach ſeinem Befinden zu erkundigen. Ich fand ihn betrübt und gedankenvoll und von der geſtrigen etwas gewaltſamen Aufgeregtheit keine Spur. Er ſchien die Lücke, die der Tod in ein funfzigjähriges freundſchaft¬ liches Verhältniß geriſſen, heute tief zu empfinden. „Ich muß mit Gewalt arbeiten, ſagte er, um mich oben zu halten und mich in dieſe plötzliche Trennung zu ſchicken. Der Tod iſt doch etwas ſo Seltſames, daß man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns theuren Gegenſtande nicht für möglich hält und er immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes ein¬ tritt. Er iſt gewiſſermaßen eine Unmöglichkeit, die plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieſer Uebergang aus einer uns bekannten Exiſtenz in eine andere, von der wir auch gar nichts wiſſen, iſt etwas ſo Gewalt¬ ſames, daß es für die Zurückbleibenden nicht ohne die tiefſte Erſchütterung abgeht“.
Freitag, den 5. März 1830*.
Eine nahe Verwandte der Jugendgeliebten Goethe's, Fräulein von Türkheim, war einige Zeit in Weimar. Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über ihre Abreiſe aus. Sie iſt ſo jung, ſagte ich, und zeigt eine ſo erhabene Geſinnung und einen ſo reifen Geiſt,
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Montag, den 15. Februar 1830*.
Ich war dieſen Vormittag einen Augenblick bei
Goethe, um mich im Namen der Frau Großherzogin
nach ſeinem Befinden zu erkundigen. Ich fand ihn
betrübt und gedankenvoll und von der geſtrigen etwas
gewaltſamen Aufgeregtheit keine Spur. Er ſchien die
Lücke, die der Tod in ein funfzigjähriges freundſchaft¬
liches Verhältniß geriſſen, heute tief zu empfinden.
„Ich muß mit Gewalt arbeiten, ſagte er, um mich oben
zu halten und mich in dieſe plötzliche Trennung zu
ſchicken. Der Tod iſt doch etwas ſo Seltſames, daß
man ihn, unerachtet aller Erfahrung, bei einem uns
theuren Gegenſtande nicht für möglich hält und er
immer als etwas Unglaubliches und Unerwartetes ein¬
tritt. Er iſt gewiſſermaßen eine Unmöglichkeit, die
plötzlich zur Wirklichkeit wird. Und dieſer Uebergang
aus einer uns bekannten Exiſtenz in eine andere, von
der wir auch gar nichts wiſſen, iſt etwas ſo Gewalt¬
ſames, daß es für die Zurückbleibenden nicht ohne die
tiefſte Erſchütterung abgeht“.
Freitag, den 5. März 1830*.
Eine nahe Verwandte der Jugendgeliebten Goethe's,
Fräulein von Türkheim, war einige Zeit in Weimar.
Ich drückte heute gegen Goethe mein Bedauern über
ihre Abreiſe aus. Sie iſt ſo jung, ſagte ich, und zeigt
eine ſo erhabene Geſinnung und einen ſo reifen Geiſt,
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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 297. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/319>, abgerufen am 24.11.2024.
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