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Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848.

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rief er mir zu: O Herr von Goethe! wie vortrefflich
haben Sie gesprochen, und wie haben Sie dem Lord
gefallen und das Geheimniß verstanden, den Weg zu
seinem Herzen zu finden. Mit etwas weniger Derbheit
und Entschiedenheit würden Sie von Ihrem Besuch
sicher nicht so zufrieden nach Hause gehen, wie Sie es
jetzt thun."

Sie haben wegen Ihres Werther allerlei zu ertra¬
gen gehabt, bemerkte ich. Ihr Abenteuer mit Lord
Bristol erinnert mich an Ihre Unterredung mit Napo¬
leon über diesen Gegenstand. War nicht auch Talley¬
rand dabei?

"Er war zugegen, erwiederte Goethe. Ich hatte
mich jedoch über Napoleon nicht zu beklagen. Er war
äußerst liebenswürdig gegen mich und tractirte den
Gegenstand wie es sich von einem so grandiosen Geiste
erwarten ließ."

Vom Werther lenkte sich das Gespräch auf Romane
und Schauspiele im Allgemeinen und ihre moralische
oder unmoralische Wirkung auf das Publicum. "Es
müßte schlimm zugehen, sagte Goethe, wenn ein Buch
unmoralischer wirken sollte, als das Leben selber, das
täglich der skandalösen Scenen im Ueberfluß, wo nicht
vor unseren Augen, doch vor unseren Ohren entwickelt.
Selbst bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen
eines Buches oder Theaterstückes keineswegs so ängst¬

rief er mir zu: O Herr von Goethe! wie vortrefflich
haben Sie geſprochen, und wie haben Sie dem Lord
gefallen und das Geheimniß verſtanden, den Weg zu
ſeinem Herzen zu finden. Mit etwas weniger Derbheit
und Entſchiedenheit würden Sie von Ihrem Beſuch
ſicher nicht ſo zufrieden nach Hauſe gehen, wie Sie es
jetzt thun.“

Sie haben wegen Ihres Werther allerlei zu ertra¬
gen gehabt, bemerkte ich. Ihr Abenteuer mit Lord
Briſtol erinnert mich an Ihre Unterredung mit Napo¬
leon über dieſen Gegenſtand. War nicht auch Talley¬
rand dabei?

„Er war zugegen, erwiederte Goethe. Ich hatte
mich jedoch über Napoleon nicht zu beklagen. Er war
äußerſt liebenswürdig gegen mich und tractirte den
Gegenſtand wie es ſich von einem ſo grandioſen Geiſte
erwarten ließ.“

Vom Werther lenkte ſich das Geſpräch auf Romane
und Schauſpiele im Allgemeinen und ihre moraliſche
oder unmoraliſche Wirkung auf das Publicum. „Es
müßte ſchlimm zugehen, ſagte Goethe, wenn ein Buch
unmoraliſcher wirken ſollte, als das Leben ſelber, das
täglich der ſkandalöſen Scenen im Ueberfluß, wo nicht
vor unſeren Augen, doch vor unſeren Ohren entwickelt.
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eines Buches oder Theaterſtückes keineswegs ſo ängſt¬

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[329/0351] rief er mir zu: O Herr von Goethe! wie vortrefflich haben Sie geſprochen, und wie haben Sie dem Lord gefallen und das Geheimniß verſtanden, den Weg zu ſeinem Herzen zu finden. Mit etwas weniger Derbheit und Entſchiedenheit würden Sie von Ihrem Beſuch ſicher nicht ſo zufrieden nach Hauſe gehen, wie Sie es jetzt thun.“ Sie haben wegen Ihres Werther allerlei zu ertra¬ gen gehabt, bemerkte ich. Ihr Abenteuer mit Lord Briſtol erinnert mich an Ihre Unterredung mit Napo¬ leon über dieſen Gegenſtand. War nicht auch Talley¬ rand dabei? „Er war zugegen, erwiederte Goethe. Ich hatte mich jedoch über Napoleon nicht zu beklagen. Er war äußerſt liebenswürdig gegen mich und tractirte den Gegenſtand wie es ſich von einem ſo grandioſen Geiſte erwarten ließ.“ Vom Werther lenkte ſich das Geſpräch auf Romane und Schauſpiele im Allgemeinen und ihre moraliſche oder unmoraliſche Wirkung auf das Publicum. „Es müßte ſchlimm zugehen, ſagte Goethe, wenn ein Buch unmoraliſcher wirken ſollte, als das Leben ſelber, das täglich der ſkandalöſen Scenen im Ueberfluß, wo nicht vor unſeren Augen, doch vor unſeren Ohren entwickelt. Selbſt bei Kindern braucht man wegen der Wirkungen eines Buches oder Theaterſtückes keineswegs ſo ängſt¬

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Zitationshilfe: Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Bd. 3. Leipzig, 1848, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eckermann_goethe03_1848/351>, abgerufen am 27.11.2024.