[Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893.geben? Kunstschöpfungen, die eine Welt für sich darstellen, Tonwerke, die vom begeisterten Hörer die ganze hingebungsfreudige Seele fordern? Es gibt ja Leute, die ohne Ermüdung an einem Nachmittag zwei Diners mitmachen, auch keinerlei Verdauungsbeschwerden davontragen: aber entweder sind das Kraftmenschen von exzeptioneller Begabung, herkulische Charaktere mit richtigem Straußen-Gedärm, - oder sie speisen nur scheinbar. Der Kunst und dem Kunstgenuß aber ist doch mit dieser Scheinbarlichkeit nicht gedient. Der musikalische Wirt rechnet auf wirkliche Esser, nicht auf Halb-Gäste, die ab und zu einmal knabbern und mit dem Seufzer der Uebersättigung gerade die consistentesten Gänge vorbei lassen. - Auch im Lieder-Concert wird dem herrlichen Grundsatz Bion's, daß Maaß halten gut sei, beinahe regelmäßig die Achtung verweigert. - Dies unaufhörliche Stapeln von Eindruck auf Eindruck läuft ganz auf die Barbarei thörichter Schlemmer hinaus, die den Genuß am Wein zu erhöhen glauben, wenn sie eine recht große Anzahl von Sorten auffahren lassen. In Wirklichkeit stumpft sich das Weinverständniß mit jeder neu ausgetragenen Marke bedenklicher ab, und zuletzt wird die Zunge so schlaff und pelzig, daß sie die einfachsten Ur-Elemente der Trinkwissenschaft nicht mehr beherrscht und, wenn man dem Zecher die Augen verbindet, kaum noch im Stande ist, Rotwein von Weißwein zu unterscheiden. Aber so ist der Mensch: selbst beim Kunstgenuß wohnt ihm etwas von jener animalischen Gier inne, die den Wolf schlingen statt kauen heißt, und den Bauernjungen beim Reisbrei sich mit eiserner Consequenz überfressen läßt. Er kann nicht genug bekommen - und übersieht dabei, daß alle Genußmittel, auch die geistigen, Gifte werden, sobald man die Dosis zu stark nimmt. geben? Kunstschöpfungen, die eine Welt für sich darstellen, Tonwerke, die vom begeisterten Hörer die ganze hingebungsfreudige Seele fordern? Es gibt ja Leute, die ohne Ermüdung an einem Nachmittag zwei Diners mitmachen, auch keinerlei Verdauungsbeschwerden davontragen: aber entweder sind das Kraftmenschen von exzeptioneller Begabung, herkulische Charaktere mit richtigem Straußen-Gedärm, – oder sie speisen nur scheinbar. Der Kunst und dem Kunstgenuß aber ist doch mit dieser Scheinbarlichkeit nicht gedient. Der musikalische Wirt rechnet auf wirkliche Esser, nicht auf Halb-Gäste, die ab und zu einmal knabbern und mit dem Seufzer der Uebersättigung gerade die consistentesten Gänge vorbei lassen. – Auch im Lieder-Concert wird dem herrlichen Grundsatz Bion’s, daß Maaß halten gut sei, beinahe regelmäßig die Achtung verweigert. – Dies unaufhörliche Stapeln von Eindruck auf Eindruck läuft ganz auf die Barbarei thörichter Schlemmer hinaus, die den Genuß am Wein zu erhöhen glauben, wenn sie eine recht große Anzahl von Sorten auffahren lassen. In Wirklichkeit stumpft sich das Weinverständniß mit jeder neu ausgetragenen Marke bedenklicher ab, und zuletzt wird die Zunge so schlaff und pelzig, daß sie die einfachsten Ur-Elemente der Trinkwissenschaft nicht mehr beherrscht und, wenn man dem Zecher die Augen verbindet, kaum noch im Stande ist, Rotwein von Weißwein zu unterscheiden. Aber so ist der Mensch: selbst beim Kunstgenuß wohnt ihm etwas von jener animalischen Gier inne, die den Wolf schlingen statt kauen heißt, und den Bauernjungen beim Reisbrei sich mit eiserner Consequenz überfressen läßt. Er kann nicht genug bekommen – und übersieht dabei, daß alle Genußmittel, auch die geistigen, Gifte werden, sobald man die Dosis zu stark nimmt. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0013" n="11"/> geben? Kunstschöpfungen, die eine Welt für sich darstellen, Tonwerke, die vom begeisterten Hörer die ganze hingebungsfreudige Seele fordern? Es gibt ja Leute, die ohne Ermüdung an einem Nachmittag zwei Diners mitmachen, auch keinerlei Verdauungsbeschwerden davontragen: aber entweder sind das Kraftmenschen von exzeptioneller Begabung, herkulische Charaktere mit richtigem Straußen-Gedärm, – oder sie speisen nur scheinbar. Der Kunst und dem Kunstgenuß aber ist doch mit dieser Scheinbarlichkeit nicht gedient. Der musikalische Wirt rechnet auf wirkliche Esser, nicht auf Halb-Gäste, die ab und zu einmal knabbern und mit dem Seufzer der Uebersättigung gerade die consistentesten Gänge vorbei lassen. – Auch im Lieder-Concert wird dem herrlichen Grundsatz Bion’s, daß Maaß halten gut sei, beinahe regelmäßig die Achtung verweigert. – Dies unaufhörliche Stapeln von Eindruck auf Eindruck läuft ganz auf die Barbarei thörichter Schlemmer hinaus, die den Genuß am Wein zu erhöhen glauben, wenn sie eine recht große Anzahl von Sorten auffahren lassen. In Wirklichkeit stumpft sich das Weinverständniß mit jeder neu ausgetragenen Marke bedenklicher ab, und zuletzt wird die Zunge so schlaff und pelzig, daß sie die einfachsten Ur-Elemente der Trinkwissenschaft nicht mehr beherrscht und, wenn man dem Zecher die Augen verbindet, kaum noch im Stande ist, Rotwein von Weißwein zu unterscheiden. Aber so ist der Mensch: selbst beim Kunstgenuß wohnt ihm etwas von jener animalischen Gier inne, die den Wolf schlingen statt kauen heißt, und den Bauernjungen beim Reisbrei sich mit eiserner Consequenz überfressen läßt. Er kann nicht genug bekommen – und übersieht dabei, daß alle Genußmittel, auch die geistigen, Gifte werden, sobald man die Dosis zu stark nimmt.</p> </div> </body> </text> </TEI> [11/0013]
geben? Kunstschöpfungen, die eine Welt für sich darstellen, Tonwerke, die vom begeisterten Hörer die ganze hingebungsfreudige Seele fordern? Es gibt ja Leute, die ohne Ermüdung an einem Nachmittag zwei Diners mitmachen, auch keinerlei Verdauungsbeschwerden davontragen: aber entweder sind das Kraftmenschen von exzeptioneller Begabung, herkulische Charaktere mit richtigem Straußen-Gedärm, – oder sie speisen nur scheinbar. Der Kunst und dem Kunstgenuß aber ist doch mit dieser Scheinbarlichkeit nicht gedient. Der musikalische Wirt rechnet auf wirkliche Esser, nicht auf Halb-Gäste, die ab und zu einmal knabbern und mit dem Seufzer der Uebersättigung gerade die consistentesten Gänge vorbei lassen. – Auch im Lieder-Concert wird dem herrlichen Grundsatz Bion’s, daß Maaß halten gut sei, beinahe regelmäßig die Achtung verweigert. – Dies unaufhörliche Stapeln von Eindruck auf Eindruck läuft ganz auf die Barbarei thörichter Schlemmer hinaus, die den Genuß am Wein zu erhöhen glauben, wenn sie eine recht große Anzahl von Sorten auffahren lassen. In Wirklichkeit stumpft sich das Weinverständniß mit jeder neu ausgetragenen Marke bedenklicher ab, und zuletzt wird die Zunge so schlaff und pelzig, daß sie die einfachsten Ur-Elemente der Trinkwissenschaft nicht mehr beherrscht und, wenn man dem Zecher die Augen verbindet, kaum noch im Stande ist, Rotwein von Weißwein zu unterscheiden. Aber so ist der Mensch: selbst beim Kunstgenuß wohnt ihm etwas von jener animalischen Gier inne, die den Wolf schlingen statt kauen heißt, und den Bauernjungen beim Reisbrei sich mit eiserner Consequenz überfressen läßt. Er kann nicht genug bekommen – und übersieht dabei, daß alle Genußmittel, auch die geistigen, Gifte werden, sobald man die Dosis zu stark nimmt.
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