[Eckstein, Ernst:] Dudler und Dulder. Studien über die Anmaßungen der Tonkunst. Leipzig, 1893.Victor Hugo, Alfred de Musset, ist aber vollständig blind gegen die größten Kühnheiten der zeitgenössischen Oper. Das Verhalten des Königs Franz I. gegen die Tochter Triboulet's nennt sie infam; das des Herzogs vou Mantua gegen die Tochter des Rigoletto findet sie harmlos. In Deutschland erlebt man das Gleiche mit der Veurtheilung gewisser Scenen des Don Juan und ähnlicher nicht halb so verfänglicher Momente in den Dichtungen neuerer Dramatiker. Wir haben vor längerer Zeit anderwärts den Versuch gemacht, die augenscheinliche Ungerechtigkeit, mit der die Majorität des Publicums die Musik über sämmtliche Schwesterkünste emporschraubt, in ihren Ursachen aufzudecken. Das Resultat dieses Versuchs läßt sich ungefähr zusammenfassen wie folgt: Die meisten Menschen kennen nur ein Interesse: das sinnliche. Dies gilt zunächst buchstäblich und bezieht sich sonach auf die einseitigen Sympathieen der Masse für Alles was die Sinne erregt und befriedigt; dann aber auch, weitergefaßt, auf den rohen, mit dem Wesen der Kunst in keiner Berührung stehenden Zeitvertreib. Ganz besonders schwärmt diese Majorität für Alles, was neben sonstigen ihr willkommenen Vorzügen die Eigenschaft hat, sie der Nothwendigkeit des Denkens zu überheben. - Von Zeit zu Zeit überläßt sich auch der geistig begabte Mensch mit besonderem Wohlgefühl einem Natur- oder Kunsteindrucke, der das Individuum gleichsam ganz in Empfindung auflöst, einer Kunst, bei welcher uns, wie Paul Heyse sagt, die Gedanken vergehen; das grundsätzliche Perhorresciren des discursiven Denkens, soweit dasselbe nicht dem Erwerb dient, - die Antipathie gegen jedes geistige Mitschaffen beim Genießen - das charakterisirt den intellektuellen Pöbel. Existirt nun eine Victor Hugo, Alfred de Musset, ist aber vollständig blind gegen die größten Kühnheiten der zeitgenössischen Oper. Das Verhalten des Königs Franz I. gegen die Tochter Triboulet’s nennt sie infam; das des Herzogs vou Mantua gegen die Tochter des Rigoletto findet sie harmlos. In Deutschland erlebt man das Gleiche mit der Veurtheilung gewisser Scenen des Don Juan und ähnlicher nicht halb so verfänglicher Momente in den Dichtungen neuerer Dramatiker. Wir haben vor längerer Zeit anderwärts den Versuch gemacht, die augenscheinliche Ungerechtigkeit, mit der die Majorität des Publicums die Musik über sämmtliche Schwesterkünste emporschraubt, in ihren Ursachen aufzudecken. Das Resultat dieses Versuchs läßt sich ungefähr zusammenfassen wie folgt: Die meisten Menschen kennen nur ein Interesse: das sinnliche. Dies gilt zunächst buchstäblich und bezieht sich sonach auf die einseitigen Sympathieen der Masse für Alles was die Sinne erregt und befriedigt; dann aber auch, weitergefaßt, auf den rohen, mit dem Wesen der Kunst in keiner Berührung stehenden Zeitvertreib. Ganz besonders schwärmt diese Majorität für Alles, was neben sonstigen ihr willkommenen Vorzügen die Eigenschaft hat, sie der Nothwendigkeit des Denkens zu überheben. – Von Zeit zu Zeit überläßt sich auch der geistig begabte Mensch mit besonderem Wohlgefühl einem Natur- oder Kunsteindrucke, der das Individuum gleichsam ganz in Empfindung auflöst, einer Kunst, bei welcher uns, wie Paul Heyse sagt, die Gedanken vergehen; das grundsätzliche Perhorresciren des discursiven Denkens, soweit dasselbe nicht dem Erwerb dient, – die Antipathie gegen jedes geistige Mitschaffen beim Genießen – das charakterisirt den intellektuellen Pöbel. Existirt nun eine <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0018" n="16"/> Victor Hugo, Alfred de Musset, ist aber vollständig blind gegen die größten Kühnheiten der zeitgenössischen Oper. Das Verhalten des Königs Franz I. gegen die Tochter Triboulet’s nennt sie infam; das des Herzogs vou Mantua gegen die Tochter des Rigoletto findet sie harmlos. In Deutschland erlebt man das Gleiche mit der Veurtheilung gewisser Scenen des Don Juan und ähnlicher nicht halb so verfänglicher Momente in den Dichtungen neuerer Dramatiker.</p> <p>Wir haben vor längerer Zeit anderwärts den Versuch gemacht, die augenscheinliche Ungerechtigkeit, mit der die Majorität des Publicums die Musik über sämmtliche Schwesterkünste emporschraubt, in ihren Ursachen aufzudecken. Das Resultat dieses Versuchs läßt sich ungefähr zusammenfassen wie folgt:</p> <p>Die meisten Menschen kennen nur ein Interesse: das sinnliche. Dies gilt zunächst buchstäblich und bezieht sich sonach auf die einseitigen Sympathieen der Masse für Alles was die Sinne erregt und befriedigt; dann aber auch, weitergefaßt, auf den rohen, mit dem Wesen der Kunst in keiner Berührung stehenden Zeitvertreib. Ganz besonders schwärmt diese Majorität für Alles, was neben sonstigen ihr willkommenen Vorzügen die Eigenschaft hat, sie der Nothwendigkeit des Denkens zu überheben. – Von Zeit zu Zeit überläßt sich auch der geistig begabte Mensch mit besonderem Wohlgefühl einem Natur- oder Kunsteindrucke, der das Individuum gleichsam ganz in Empfindung auflöst, einer Kunst, bei welcher uns, wie Paul Heyse sagt, die Gedanken vergehen; das grundsätzliche Perhorresciren des discursiven Denkens, soweit dasselbe nicht dem Erwerb dient, – die Antipathie gegen jedes geistige Mitschaffen beim Genießen – das charakterisirt den intellektuellen Pöbel. Existirt nun eine </p> </div> </body> </text> </TEI> [16/0018]
Victor Hugo, Alfred de Musset, ist aber vollständig blind gegen die größten Kühnheiten der zeitgenössischen Oper. Das Verhalten des Königs Franz I. gegen die Tochter Triboulet’s nennt sie infam; das des Herzogs vou Mantua gegen die Tochter des Rigoletto findet sie harmlos. In Deutschland erlebt man das Gleiche mit der Veurtheilung gewisser Scenen des Don Juan und ähnlicher nicht halb so verfänglicher Momente in den Dichtungen neuerer Dramatiker.
Wir haben vor längerer Zeit anderwärts den Versuch gemacht, die augenscheinliche Ungerechtigkeit, mit der die Majorität des Publicums die Musik über sämmtliche Schwesterkünste emporschraubt, in ihren Ursachen aufzudecken. Das Resultat dieses Versuchs läßt sich ungefähr zusammenfassen wie folgt:
Die meisten Menschen kennen nur ein Interesse: das sinnliche. Dies gilt zunächst buchstäblich und bezieht sich sonach auf die einseitigen Sympathieen der Masse für Alles was die Sinne erregt und befriedigt; dann aber auch, weitergefaßt, auf den rohen, mit dem Wesen der Kunst in keiner Berührung stehenden Zeitvertreib. Ganz besonders schwärmt diese Majorität für Alles, was neben sonstigen ihr willkommenen Vorzügen die Eigenschaft hat, sie der Nothwendigkeit des Denkens zu überheben. – Von Zeit zu Zeit überläßt sich auch der geistig begabte Mensch mit besonderem Wohlgefühl einem Natur- oder Kunsteindrucke, der das Individuum gleichsam ganz in Empfindung auflöst, einer Kunst, bei welcher uns, wie Paul Heyse sagt, die Gedanken vergehen; das grundsätzliche Perhorresciren des discursiven Denkens, soweit dasselbe nicht dem Erwerb dient, – die Antipathie gegen jedes geistige Mitschaffen beim Genießen – das charakterisirt den intellektuellen Pöbel. Existirt nun eine
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