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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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fontaine gelesen? Ja, antwortete das Mädchen,
in einer ziemlich bäuerischen Mundart, ich habe es
gelesen, mein ädler Freund! und es hat mir Thrä¬
nen entlockt, Thränen, wie sie jeder Fühlende gern
weint. Ich bin so froh, fuhr sie nach einer kleinen
Pause fort, daß wir aus dem Schwarm, von den
lärmenden, unempfindlichen Menschen fort sind; die
rauschenden Vergnügungen sind gar nicht meine
Sache, es ist da gar nichts für das Herz. Er.
O, daran erkenne ich ganz die schöne Seele! Aber
Sie sollten sich der süßen Melankolie nicht so stark
ergeben, die edlen Empfindungen greifen den Men¬
schen zu sehr an. -- Sie sieht aber doch, flüsterte
Friedrich, blitzgesund aus und voll zum Aufsprin¬
gen. Das kommt eben von dem angreifen, meynte
Leontin. -- Er. Ach, in wenigen Stunden scheidet
uns das eiserne Schicksal wieder, und Berge und
Thäler liegen zwischen zwey gebrochnen Herzen.
Sie. Ja, und in dem einen Thale ist der Weg
immer so kothig und kaum zum durchkommen. Er.
Und an meinem neuen schönen Parutsch grade auch
ein Rad gebrochen. -- Aber genießen wir doch die
schöne Natur! An ihrem Busen werd' ich so warm!
Sie. O ja. Er. Es geht doch nichts über die Ein¬
samkeit für ein sanftes, überfließendes Herz. Ach!
die kalten Menschen verstehen mich gar nicht! Sie.
Auch Sie sind der einzige, mein ädler Freund, der
mich ganz versteht. Schon lange habe ich Sie im
Stillen bewundert, diesen -- wie soll ich sagen? --
diesen ädlen Charakter, diese schönen Sentimentre --

fontaine geleſen? Ja, antwortete das Mädchen,
in einer ziemlich bäueriſchen Mundart, ich habe es
geleſen, mein ädler Freund! und es hat mir Thrä¬
nen entlockt, Thränen, wie ſie jeder Fühlende gern
weint. Ich bin ſo froh, fuhr ſie nach einer kleinen
Pauſe fort, daß wir aus dem Schwarm, von den
lärmenden, unempfindlichen Menſchen fort ſind; die
rauſchenden Vergnügungen ſind gar nicht meine
Sache, es iſt da gar nichts für das Herz. Er.
O, daran erkenne ich ganz die ſchöne Seele! Aber
Sie ſollten ſich der ſüßen Melankolie nicht ſo ſtark
ergeben, die edlen Empfindungen greifen den Men¬
ſchen zu ſehr an. — Sie ſieht aber doch, flüſterte
Friedrich, blitzgeſund aus und voll zum Aufſprin¬
gen. Das kommt eben von dem angreifen, meynte
Leontin. — Er. Ach, in wenigen Stunden ſcheidet
uns das eiſerne Schickſal wieder, und Berge und
Thäler liegen zwiſchen zwey gebrochnen Herzen.
Sie. Ja, und in dem einen Thale iſt der Weg
immer ſo kothig und kaum zum durchkommen. Er.
Und an meinem neuen ſchönen Parutſch grade auch
ein Rad gebrochen. — Aber genießen wir doch die
ſchöne Natur! An ihrem Buſen werd' ich ſo warm!
Sie. O ja. Er. Es geht doch nichts über die Ein¬
ſamkeit für ein ſanftes, überfließendes Herz. Ach!
die kalten Menſchen verſtehen mich gar nicht! Sie.
Auch Sie ſind der einzige, mein ädler Freund, der
mich ganz verſteht. Schon lange habe ich Sie im
Stillen bewundert, dieſen — wie ſoll ich ſagen? —
dieſen ädlen Charakter, dieſe ſchönen Sentimentre —

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[98/0104] fontaine geleſen? Ja, antwortete das Mädchen, in einer ziemlich bäueriſchen Mundart, ich habe es geleſen, mein ädler Freund! und es hat mir Thrä¬ nen entlockt, Thränen, wie ſie jeder Fühlende gern weint. Ich bin ſo froh, fuhr ſie nach einer kleinen Pauſe fort, daß wir aus dem Schwarm, von den lärmenden, unempfindlichen Menſchen fort ſind; die rauſchenden Vergnügungen ſind gar nicht meine Sache, es iſt da gar nichts für das Herz. Er. O, daran erkenne ich ganz die ſchöne Seele! Aber Sie ſollten ſich der ſüßen Melankolie nicht ſo ſtark ergeben, die edlen Empfindungen greifen den Men¬ ſchen zu ſehr an. — Sie ſieht aber doch, flüſterte Friedrich, blitzgeſund aus und voll zum Aufſprin¬ gen. Das kommt eben von dem angreifen, meynte Leontin. — Er. Ach, in wenigen Stunden ſcheidet uns das eiſerne Schickſal wieder, und Berge und Thäler liegen zwiſchen zwey gebrochnen Herzen. Sie. Ja, und in dem einen Thale iſt der Weg immer ſo kothig und kaum zum durchkommen. Er. Und an meinem neuen ſchönen Parutſch grade auch ein Rad gebrochen. — Aber genießen wir doch die ſchöne Natur! An ihrem Buſen werd' ich ſo warm! Sie. O ja. Er. Es geht doch nichts über die Ein¬ ſamkeit für ein ſanftes, überfließendes Herz. Ach! die kalten Menſchen verſtehen mich gar nicht! Sie. Auch Sie ſind der einzige, mein ädler Freund, der mich ganz verſteht. Schon lange habe ich Sie im Stillen bewundert, dieſen — wie ſoll ich ſagen? — dieſen ädlen Charakter, dieſe ſchönen Sentimentre —

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 98. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/104>, abgerufen am 27.11.2024.