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Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

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er begierig die alte Freude wieder auf darin, aber
der frische, kindische Glanz, der damals das Buch
und die ganze Erde überschien, ist verschwunden,
die Gestalten, mit denen er so innig vertraut war,
sind unterdeß fremde und anders geworden und se¬
hen ihn an, wie ein schlechter Holzstich, daß er
weinen und lachen möchte zugleich. Mit so munte¬
ren, mahlerischen Kindes-Augen durchflog denn
auch Friedrich diese Bücher. Wenn er dazwischen
dann vom Blatte aufsah, glänzte von allen Seiten
der schöne Kreis der Landschaft in die Geschichten
hinein, die Figuren, wie der Wind durch die Blät¬
ter des Buches rührte, erhoben sich vor ihm in der
gränzenlosen, grünen Stille und traten lebendig in
die schimmernde Ferne hinaus; und so war eigent¬
lich kein Buch so schlecht erfunden, daß er es nicht
erquickt und belehrt aus der Hand gelegt hätte.
Und das sind die rechten Leser, die mit und über
dem Buche dichten. Denn kein Dichter giebt einen
fertigen Himmel; er stellt nur die Himmelsleiter
auf von der schönen Erde. Wer, zu träge un¬
lustig, nicht den Muth verspürt, die goldenen, lo¬
sen Sprossen zu besteigen, dem bleibt der geheim¬
nißvolle Buchstabe ewig todt, und er thäte besser,
zu graben oder zu pflügen, als so mit unnützem
Lesen müssig zu geh'n.

Leontin dagegen durchstrich alle Morgen, wenn
er es etwa nicht verschlief, welches gar oft geschah,
mit der Flinte auf dem Rücken Felder und Wäl¬
der, schwamm einigemal des Tages über die rei¬

er begierig die alte Freude wieder auf darin, aber
der friſche, kindiſche Glanz, der damals das Buch
und die ganze Erde überſchien, iſt verſchwunden,
die Geſtalten, mit denen er ſo innig vertraut war,
ſind unterdeß fremde und anders geworden und ſe¬
hen ihn an, wie ein ſchlechter Holzſtich, daß er
weinen und lachen möchte zugleich. Mit ſo munte¬
ren, mahleriſchen Kindes-Augen durchflog denn
auch Friedrich dieſe Bücher. Wenn er dazwiſchen
dann vom Blatte aufſah, glänzte von allen Seiten
der ſchöne Kreis der Landſchaft in die Geſchichten
hinein, die Figuren, wie der Wind durch die Blät¬
ter des Buches rührte, erhoben ſich vor ihm in der
gränzenloſen, grünen Stille und traten lebendig in
die ſchimmernde Ferne hinaus; und ſo war eigent¬
lich kein Buch ſo ſchlecht erfunden, daß er es nicht
erquickt und belehrt aus der Hand gelegt hätte.
Und das ſind die rechten Leſer, die mit und über
dem Buche dichten. Denn kein Dichter giebt einen
fertigen Himmel; er ſtellt nur die Himmelsleiter
auf von der ſchönen Erde. Wer, zu träge un¬
luſtig, nicht den Muth verſpürt, die goldenen, lo¬
ſen Sproſſen zu beſteigen, dem bleibt der geheim¬
nißvolle Buchſtabe ewig todt, und er thäte beſſer,
zu graben oder zu pflügen, als ſo mit unnützem
Leſen müſſig zu geh'n.

Leontin dagegen durchſtrich alle Morgen, wenn
er es etwa nicht verſchlief, welches gar oft geſchah,
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[150/0156] er begierig die alte Freude wieder auf darin, aber der friſche, kindiſche Glanz, der damals das Buch und die ganze Erde überſchien, iſt verſchwunden, die Geſtalten, mit denen er ſo innig vertraut war, ſind unterdeß fremde und anders geworden und ſe¬ hen ihn an, wie ein ſchlechter Holzſtich, daß er weinen und lachen möchte zugleich. Mit ſo munte¬ ren, mahleriſchen Kindes-Augen durchflog denn auch Friedrich dieſe Bücher. Wenn er dazwiſchen dann vom Blatte aufſah, glänzte von allen Seiten der ſchöne Kreis der Landſchaft in die Geſchichten hinein, die Figuren, wie der Wind durch die Blät¬ ter des Buches rührte, erhoben ſich vor ihm in der gränzenloſen, grünen Stille und traten lebendig in die ſchimmernde Ferne hinaus; und ſo war eigent¬ lich kein Buch ſo ſchlecht erfunden, daß er es nicht erquickt und belehrt aus der Hand gelegt hätte. Und das ſind die rechten Leſer, die mit und über dem Buche dichten. Denn kein Dichter giebt einen fertigen Himmel; er ſtellt nur die Himmelsleiter auf von der ſchönen Erde. Wer, zu träge un¬ luſtig, nicht den Muth verſpürt, die goldenen, lo¬ ſen Sproſſen zu beſteigen, dem bleibt der geheim¬ nißvolle Buchſtabe ewig todt, und er thäte beſſer, zu graben oder zu pflügen, als ſo mit unnützem Leſen müſſig zu geh'n. Leontin dagegen durchſtrich alle Morgen, wenn er es etwa nicht verſchlief, welches gar oft geſchah, mit der Flinte auf dem Rücken Felder und Wäl¬ der, ſchwamm einigemal des Tages über die rei¬

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Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 150. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/156>, abgerufen am 27.11.2024.