Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Arzt trat eben in das Zimmer. Erwin
sprang auf. Er errieth ahnend sogleich, was der
fremde Mann wolle, und machte Miene zu entsprin¬
gen. Er wollte sich durchaus nicht von ihm berüh¬
ren lassen und zitterte am ganzen Leibe. Der Arzt
schüttelte den Kopf. Hier wird meine Kunst nicht
ausreichen, sagte er zu Friedrich'n, und verließ das
Zimmer bald wieder, um den Knaben in diesem
Augenblick zu schonen. Da sank Erwin ermattet zu
Friedrichs Füßen. Friedrich hob ihn freundlich auf
seine Knie und küßte ihn. Er aber küßte und um¬
armte ihn nicht wieder wie damals, sondern saß
still und sah, in Gedanken verloren, vor sich hin.

Schon spannen wärmere Sommernächte draus¬
sen ihre Zaubereyen über Berge und Thäler, da
war es Friedrich'n einmal mitten in der Nacht, als
riefe ihn ein Freund, auf den er sich nicht besinnen
könnte, wie aus weiter Ferne. Er wachte auf, da
stand eine lange Gestalt mitten in dem finsteren
Zimmer. Er erkannte Leontinen an der Stimme.
Frisch auf, Herzbruder! sagte dieser, die eine
Halbkugel rührt sich hellbeleuchtet, die andere
träumt; mir war nicht wohl, ich will den Rhein
einmal wiedersehen, komm' mit! Er hatte die Fen¬
ster aufgemacht, einzelne graue Streifen langten
schon über den Himmel, unten auf der Gasse blies
der Postillon lustig auf dem Horne.

Da galt kein Staunen und kein Zögern, Frie¬
drich mußte mit ihm hinunter in den Wagen. Auch

Der Arzt trat eben in das Zimmer. Erwin
ſprang auf. Er errieth ahnend ſogleich, was der
fremde Mann wolle, und machte Miene zu entſprin¬
gen. Er wollte ſich durchaus nicht von ihm berüh¬
ren laſſen und zitterte am ganzen Leibe. Der Arzt
ſchüttelte den Kopf. Hier wird meine Kunſt nicht
ausreichen, ſagte er zu Friedrich'n, und verließ das
Zimmer bald wieder, um den Knaben in dieſem
Augenblick zu ſchonen. Da ſank Erwin ermattet zu
Friedrichs Füßen. Friedrich hob ihn freundlich auf
ſeine Knie und küßte ihn. Er aber küßte und um¬
armte ihn nicht wieder wie damals, ſondern ſaß
ſtill und ſah, in Gedanken verloren, vor ſich hin.

Schon ſpannen wärmere Sommernächte drauſ¬
ſen ihre Zaubereyen über Berge und Thäler, da
war es Friedrich'n einmal mitten in der Nacht, als
riefe ihn ein Freund, auf den er ſich nicht beſinnen
könnte, wie aus weiter Ferne. Er wachte auf, da
ſtand eine lange Geſtalt mitten in dem finſteren
Zimmer. Er erkannte Leontinen an der Stimme.
Friſch auf, Herzbruder! ſagte dieſer, die eine
Halbkugel rührt ſich hellbeleuchtet, die andere
träumt; mir war nicht wohl, ich will den Rhein
einmal wiederſehen, komm' mit! Er hatte die Fen¬
ſter aufgemacht, einzelne graue Streifen langten
ſchon über den Himmel, unten auf der Gaſſe blies
der Poſtillon luſtig auf dem Horne.

Da galt kein Staunen und kein Zögern, Frie¬
drich mußte mit ihm hinunter in den Wagen. Auch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0282" n="276"/>
          <p>Der Arzt trat eben in das Zimmer. Erwin<lb/>
&#x017F;prang auf. Er errieth ahnend &#x017F;ogleich, was der<lb/>
fremde Mann wolle, und machte Miene zu ent&#x017F;prin¬<lb/>
gen. Er wollte &#x017F;ich durchaus nicht von ihm berüh¬<lb/>
ren la&#x017F;&#x017F;en und zitterte am ganzen Leibe. Der Arzt<lb/>
&#x017F;chüttelte den Kopf. Hier wird meine Kun&#x017F;t nicht<lb/>
ausreichen, &#x017F;agte er zu Friedrich'n, und verließ das<lb/>
Zimmer bald wieder, um den Knaben in die&#x017F;em<lb/>
Augenblick zu &#x017F;chonen. Da &#x017F;ank Erwin ermattet zu<lb/>
Friedrichs Füßen. Friedrich hob ihn freundlich auf<lb/>
&#x017F;eine Knie und küßte ihn. Er aber küßte und um¬<lb/>
armte ihn nicht wieder wie damals, &#x017F;ondern &#x017F;<lb/>
&#x017F;till und &#x017F;ah, in Gedanken verloren, vor &#x017F;ich hin.</p><lb/>
          <p>Schon &#x017F;pannen wärmere Sommernächte drau&#x017F;¬<lb/>
&#x017F;en ihre Zaubereyen über Berge und Thäler, da<lb/>
war es Friedrich'n einmal mitten in der Nacht, als<lb/>
riefe ihn ein Freund, auf den er &#x017F;ich nicht be&#x017F;innen<lb/>
könnte, wie aus weiter Ferne. Er wachte auf, da<lb/>
&#x017F;tand eine lange Ge&#x017F;talt mitten in dem fin&#x017F;teren<lb/>
Zimmer. Er erkannte Leontinen an der Stimme.<lb/>
Fri&#x017F;ch auf, Herzbruder! &#x017F;agte die&#x017F;er, die eine<lb/>
Halbkugel rührt &#x017F;ich hellbeleuchtet, die andere<lb/>
träumt; mir war nicht wohl, ich will den Rhein<lb/>
einmal wieder&#x017F;ehen, komm' mit! Er hatte die Fen¬<lb/>
&#x017F;ter aufgemacht, einzelne graue Streifen langten<lb/>
&#x017F;chon über den Himmel, unten auf der Ga&#x017F;&#x017F;e blies<lb/>
der Po&#x017F;tillon lu&#x017F;tig auf dem Horne.</p><lb/>
          <p>Da galt kein Staunen und kein Zögern, Frie¬<lb/>
drich mußte mit ihm hinunter in den Wagen. Auch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[276/0282] Der Arzt trat eben in das Zimmer. Erwin ſprang auf. Er errieth ahnend ſogleich, was der fremde Mann wolle, und machte Miene zu entſprin¬ gen. Er wollte ſich durchaus nicht von ihm berüh¬ ren laſſen und zitterte am ganzen Leibe. Der Arzt ſchüttelte den Kopf. Hier wird meine Kunſt nicht ausreichen, ſagte er zu Friedrich'n, und verließ das Zimmer bald wieder, um den Knaben in dieſem Augenblick zu ſchonen. Da ſank Erwin ermattet zu Friedrichs Füßen. Friedrich hob ihn freundlich auf ſeine Knie und küßte ihn. Er aber küßte und um¬ armte ihn nicht wieder wie damals, ſondern ſaß ſtill und ſah, in Gedanken verloren, vor ſich hin. Schon ſpannen wärmere Sommernächte drauſ¬ ſen ihre Zaubereyen über Berge und Thäler, da war es Friedrich'n einmal mitten in der Nacht, als riefe ihn ein Freund, auf den er ſich nicht beſinnen könnte, wie aus weiter Ferne. Er wachte auf, da ſtand eine lange Geſtalt mitten in dem finſteren Zimmer. Er erkannte Leontinen an der Stimme. Friſch auf, Herzbruder! ſagte dieſer, die eine Halbkugel rührt ſich hellbeleuchtet, die andere träumt; mir war nicht wohl, ich will den Rhein einmal wiederſehen, komm' mit! Er hatte die Fen¬ ſter aufgemacht, einzelne graue Streifen langten ſchon über den Himmel, unten auf der Gaſſe blies der Poſtillon luſtig auf dem Horne. Da galt kein Staunen und kein Zögern, Frie¬ drich mußte mit ihm hinunter in den Wagen. Auch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/282
Zitationshilfe: Eichendorff, Joseph von: Ahnung und Gegenwart. Nürnberg, 1815, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/eichendorff_ahnung_1815/282>, abgerufen am 23.11.2024.