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Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Reicher zu gute kam, durch mancherlei Arbeiten geschärft, und schon oft siegend dargethan hatte, daß ich Reinhold und Fichte gehört, obschon von ihren Sätzen mir nichts mehr erinnerlich war. Das gerade Gegentheil von Eugenien war in dieser Rücksicht Therese, die eine sorgfältige Erziehung genossen hatte und in dem Gebiete ihrer Kunst wie in den verwandten Kreisen der Dichtkunst und Musik schöne Einsichten besaß , denen überall ein geübter Verstand Anwendung und heiteres Leben gab. Sie wußte mit festen Gedanken die Rollen, welche sie zu spielen hatte, zu durchdringen und mit bewußter Ueberlegung die Mannichfaltigkeit als Einheit festzuhalten, wodurch denn ihr heitres, bewegliches Spiel, das im Einzelnen gern augenblicklichem Gefühl folgte, in seiner Natürlichkeit nur desto schöner wurde. Wahr ist es, Eugenie machte den größten Eindruck auf das Publicum, und wurde mit rauschendem Beifall aufgenommen, so oft sie auftrat; allein dies geschah auch dann, wenn sie die ganze Bedeutung ihrer Rolle offenbar verfehlt, Auftritte falsch genommen, Verse unrichtig hergesagt, ergreifende und wichtige Stellen untergeordnet, Zufälliges hervorgehoben und so nicht selten ein schönes Kunstwerk verzerrt, statt dessen aber freilich alle ihre Anmuth und persönliche Liebenswürdigkeit glücklich vorgetragen hatte, daß die entzückten Zuschauer Eines über dem Andern vergaßen; wie müßte erst ihre Erscheinung herrlich sein, dachte ich oft, wenn ihre Kunstgaben denen, mit welchen sie die

Reicher zu gute kam, durch mancherlei Arbeiten geschärft, und schon oft siegend dargethan hatte, daß ich Reinhold und Fichte gehört, obschon von ihren Sätzen mir nichts mehr erinnerlich war. Das gerade Gegentheil von Eugenien war in dieser Rücksicht Therese, die eine sorgfältige Erziehung genossen hatte und in dem Gebiete ihrer Kunst wie in den verwandten Kreisen der Dichtkunst und Musik schöne Einsichten besaß , denen überall ein geübter Verstand Anwendung und heiteres Leben gab. Sie wußte mit festen Gedanken die Rollen, welche sie zu spielen hatte, zu durchdringen und mit bewußter Ueberlegung die Mannichfaltigkeit als Einheit festzuhalten, wodurch denn ihr heitres, bewegliches Spiel, das im Einzelnen gern augenblicklichem Gefühl folgte, in seiner Natürlichkeit nur desto schöner wurde. Wahr ist es, Eugenie machte den größten Eindruck auf das Publicum, und wurde mit rauschendem Beifall aufgenommen, so oft sie auftrat; allein dies geschah auch dann, wenn sie die ganze Bedeutung ihrer Rolle offenbar verfehlt, Auftritte falsch genommen, Verse unrichtig hergesagt, ergreifende und wichtige Stellen untergeordnet, Zufälliges hervorgehoben und so nicht selten ein schönes Kunstwerk verzerrt, statt dessen aber freilich alle ihre Anmuth und persönliche Liebenswürdigkeit glücklich vorgetragen hatte, daß die entzückten Zuschauer Eines über dem Andern vergaßen; wie müßte erst ihre Erscheinung herrlich sein, dachte ich oft, wenn ihre Kunstgaben denen, mit welchen sie die

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[0037] Reicher zu gute kam, durch mancherlei Arbeiten geschärft, und schon oft siegend dargethan hatte, daß ich Reinhold und Fichte gehört, obschon von ihren Sätzen mir nichts mehr erinnerlich war. Das gerade Gegentheil von Eugenien war in dieser Rücksicht Therese, die eine sorgfältige Erziehung genossen hatte und in dem Gebiete ihrer Kunst wie in den verwandten Kreisen der Dichtkunst und Musik schöne Einsichten besaß , denen überall ein geübter Verstand Anwendung und heiteres Leben gab. Sie wußte mit festen Gedanken die Rollen, welche sie zu spielen hatte, zu durchdringen und mit bewußter Ueberlegung die Mannichfaltigkeit als Einheit festzuhalten, wodurch denn ihr heitres, bewegliches Spiel, das im Einzelnen gern augenblicklichem Gefühl folgte, in seiner Natürlichkeit nur desto schöner wurde. Wahr ist es, Eugenie machte den größten Eindruck auf das Publicum, und wurde mit rauschendem Beifall aufgenommen, so oft sie auftrat; allein dies geschah auch dann, wenn sie die ganze Bedeutung ihrer Rolle offenbar verfehlt, Auftritte falsch genommen, Verse unrichtig hergesagt, ergreifende und wichtige Stellen untergeordnet, Zufälliges hervorgehoben und so nicht selten ein schönes Kunstwerk verzerrt, statt dessen aber freilich alle ihre Anmuth und persönliche Liebenswürdigkeit glücklich vorgetragen hatte, daß die entzückten Zuschauer Eines über dem Andern vergaßen; wie müßte erst ihre Erscheinung herrlich sein, dachte ich oft, wenn ihre Kunstgaben denen, mit welchen sie die

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Zitationshilfe: Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ense_liebe_1910/37>, abgerufen am 21.11.2024.