Varnhagen von Ense, Karl August: Reiz und Liebe. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 15. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–79. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.der Dichtung auf geschichtliche Aufgaben übertragen und für die Behandlung der Geschichtserzählung, der Biographie, des Memoirengenres ein in unserer Epigonenliteratur weithin nachwirkendes Beispiel gegeben zu haben, wird selbst von Widerwilligen anerkannt; und die Gesinnung, die warm unter den glatten Formen lebt, die vaterländische, freisinnige, humane Richtung, die ihm erst gegen sein Lebensende durch die kläglichen Zustände jener Zeit versäuert werden konnte, wird ihm trotz des über seinem Grabe ausgebrochenen Streites auf die Länge unbestritten bleiben. Bedeutsam auf die Summe seines Wirkens weisen die Worte Goethes hin: "Ich zähle ihn zu Denjenigen, die zunächst unsere Nation literarisch in sich selbst zu einigen das Talent und den Willen haben." -- Obgleich seine novellistischen Arbeiten nicht im Vordergründe seiner Leistungen stehen, darf man doch wohl sagen, daß auch sie in ähnlicher Weise, wie seine geschichtlichen, dem jüngeren Geschlecht zu Gute gekommen sind: die Goethe'sche Sprache, die, nicht bloß Nachahmung, ihm häufig wie zur andern Natur geworden ist, hat als ein Vorbild dessen fortgewirkt, was der Formbildner bei entschiedenem Willen sich zumuthen darf, und hat Manchem, der ohne dieses Vorbild vor höheren Anforderungen zurückgewichen wäre, Muth und Kraft beflügelt. Besondern Erfolg hatten die "Sterner und Psitticher", jene Erzählung, worin der Dichter die Ausgabe, ein Geschichtsbild aus dem Mittelalter zu zeichnen, mit nacheiferungswürdig frischem Entschlüsse in Angriff nahm. Die hier ausgewählte Erzählung (so, nicht Novelle, hat er selbst sie genannt) dürfte allerdings den Vorwurf auf sich laden, daß über den Charakter der Heldin anfangs nicht bloß der Held, sondern auch der Leser etwas zu sehr sich täuschen müsse: doch ist jedenfalls die Entwicklung, wie die Tünche einer scheinbaren Bildung allmählich abfällt, sehr gut zur Anschauung gebracht; und die Form, obwohl mitunter etwas gefährlich zugespitzt, zeigt im Ganzen eine Meisterschaft, welche nicht bloß vor sechzig Jahren (die Entstehungszeit ist 1812) für Wenige erreichbar war, sondern heute noch gegenüber der mehr und mehr einreißenden Verwilderung aller Anerkennung werth erscheint. der Dichtung auf geschichtliche Aufgaben übertragen und für die Behandlung der Geschichtserzählung, der Biographie, des Memoirengenres ein in unserer Epigonenliteratur weithin nachwirkendes Beispiel gegeben zu haben, wird selbst von Widerwilligen anerkannt; und die Gesinnung, die warm unter den glatten Formen lebt, die vaterländische, freisinnige, humane Richtung, die ihm erst gegen sein Lebensende durch die kläglichen Zustände jener Zeit versäuert werden konnte, wird ihm trotz des über seinem Grabe ausgebrochenen Streites auf die Länge unbestritten bleiben. Bedeutsam auf die Summe seines Wirkens weisen die Worte Goethes hin: „Ich zähle ihn zu Denjenigen, die zunächst unsere Nation literarisch in sich selbst zu einigen das Talent und den Willen haben.“ — Obgleich seine novellistischen Arbeiten nicht im Vordergründe seiner Leistungen stehen, darf man doch wohl sagen, daß auch sie in ähnlicher Weise, wie seine geschichtlichen, dem jüngeren Geschlecht zu Gute gekommen sind: die Goethe'sche Sprache, die, nicht bloß Nachahmung, ihm häufig wie zur andern Natur geworden ist, hat als ein Vorbild dessen fortgewirkt, was der Formbildner bei entschiedenem Willen sich zumuthen darf, und hat Manchem, der ohne dieses Vorbild vor höheren Anforderungen zurückgewichen wäre, Muth und Kraft beflügelt. Besondern Erfolg hatten die „Sterner und Psitticher“, jene Erzählung, worin der Dichter die Ausgabe, ein Geschichtsbild aus dem Mittelalter zu zeichnen, mit nacheiferungswürdig frischem Entschlüsse in Angriff nahm. Die hier ausgewählte Erzählung (so, nicht Novelle, hat er selbst sie genannt) dürfte allerdings den Vorwurf auf sich laden, daß über den Charakter der Heldin anfangs nicht bloß der Held, sondern auch der Leser etwas zu sehr sich täuschen müsse: doch ist jedenfalls die Entwicklung, wie die Tünche einer scheinbaren Bildung allmählich abfällt, sehr gut zur Anschauung gebracht; und die Form, obwohl mitunter etwas gefährlich zugespitzt, zeigt im Ganzen eine Meisterschaft, welche nicht bloß vor sechzig Jahren (die Entstehungszeit ist 1812) für Wenige erreichbar war, sondern heute noch gegenüber der mehr und mehr einreißenden Verwilderung aller Anerkennung werth erscheint. <TEI> <text> <front> <div type="preface"> <p><pb facs="#f0006"/> der Dichtung auf geschichtliche Aufgaben übertragen und für die Behandlung der Geschichtserzählung, der Biographie, des Memoirengenres ein in unserer Epigonenliteratur weithin nachwirkendes Beispiel gegeben zu haben, wird selbst von Widerwilligen anerkannt; und die Gesinnung, die warm unter den glatten Formen lebt, die vaterländische, freisinnige, humane Richtung, die ihm erst gegen sein Lebensende durch die kläglichen Zustände jener Zeit versäuert werden konnte, wird ihm trotz des über seinem Grabe ausgebrochenen Streites auf die Länge unbestritten bleiben. Bedeutsam auf die Summe seines Wirkens weisen die Worte Goethes hin: „Ich zähle ihn zu Denjenigen, die zunächst unsere Nation literarisch in sich selbst zu einigen das Talent und den Willen haben.“ — Obgleich seine novellistischen Arbeiten nicht im Vordergründe seiner Leistungen stehen, darf man doch wohl sagen, daß auch sie in ähnlicher Weise, wie seine geschichtlichen, dem jüngeren Geschlecht zu Gute gekommen sind: die Goethe'sche Sprache, die, nicht bloß Nachahmung, ihm häufig wie zur andern Natur geworden ist, hat als ein Vorbild dessen fortgewirkt, was der Formbildner bei entschiedenem Willen sich zumuthen darf, und hat Manchem, der ohne dieses Vorbild vor höheren Anforderungen zurückgewichen wäre, Muth und Kraft beflügelt. Besondern Erfolg hatten die „Sterner und Psitticher“, jene Erzählung, worin der Dichter die Ausgabe, ein Geschichtsbild aus dem Mittelalter zu zeichnen, mit nacheiferungswürdig frischem Entschlüsse in Angriff nahm. Die hier ausgewählte Erzählung (so, nicht Novelle, hat er selbst sie genannt) dürfte allerdings den Vorwurf auf sich laden, daß über den Charakter der Heldin anfangs nicht bloß der Held, sondern auch der Leser etwas zu sehr sich täuschen müsse: doch ist jedenfalls die Entwicklung, wie die Tünche einer scheinbaren Bildung allmählich abfällt, sehr gut zur Anschauung gebracht; und die Form, obwohl mitunter etwas gefährlich zugespitzt, zeigt im Ganzen eine Meisterschaft, welche nicht bloß vor sechzig Jahren (die Entstehungszeit ist 1812) für Wenige erreichbar war, sondern heute noch gegenüber der mehr und mehr einreißenden Verwilderung aller Anerkennung werth erscheint.</p><lb/> </div> </front> </text> </TEI> [0006]
der Dichtung auf geschichtliche Aufgaben übertragen und für die Behandlung der Geschichtserzählung, der Biographie, des Memoirengenres ein in unserer Epigonenliteratur weithin nachwirkendes Beispiel gegeben zu haben, wird selbst von Widerwilligen anerkannt; und die Gesinnung, die warm unter den glatten Formen lebt, die vaterländische, freisinnige, humane Richtung, die ihm erst gegen sein Lebensende durch die kläglichen Zustände jener Zeit versäuert werden konnte, wird ihm trotz des über seinem Grabe ausgebrochenen Streites auf die Länge unbestritten bleiben. Bedeutsam auf die Summe seines Wirkens weisen die Worte Goethes hin: „Ich zähle ihn zu Denjenigen, die zunächst unsere Nation literarisch in sich selbst zu einigen das Talent und den Willen haben.“ — Obgleich seine novellistischen Arbeiten nicht im Vordergründe seiner Leistungen stehen, darf man doch wohl sagen, daß auch sie in ähnlicher Weise, wie seine geschichtlichen, dem jüngeren Geschlecht zu Gute gekommen sind: die Goethe'sche Sprache, die, nicht bloß Nachahmung, ihm häufig wie zur andern Natur geworden ist, hat als ein Vorbild dessen fortgewirkt, was der Formbildner bei entschiedenem Willen sich zumuthen darf, und hat Manchem, der ohne dieses Vorbild vor höheren Anforderungen zurückgewichen wäre, Muth und Kraft beflügelt. Besondern Erfolg hatten die „Sterner und Psitticher“, jene Erzählung, worin der Dichter die Ausgabe, ein Geschichtsbild aus dem Mittelalter zu zeichnen, mit nacheiferungswürdig frischem Entschlüsse in Angriff nahm. Die hier ausgewählte Erzählung (so, nicht Novelle, hat er selbst sie genannt) dürfte allerdings den Vorwurf auf sich laden, daß über den Charakter der Heldin anfangs nicht bloß der Held, sondern auch der Leser etwas zu sehr sich täuschen müsse: doch ist jedenfalls die Entwicklung, wie die Tünche einer scheinbaren Bildung allmählich abfällt, sehr gut zur Anschauung gebracht; und die Form, obwohl mitunter etwas gefährlich zugespitzt, zeigt im Ganzen eine Meisterschaft, welche nicht bloß vor sechzig Jahren (die Entstehungszeit ist 1812) für Wenige erreichbar war, sondern heute noch gegenüber der mehr und mehr einreißenden Verwilderung aller Anerkennung werth erscheint.
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