ruhiger, jedoch unaufhaltsamer Entwicklung vorwärts, der sich nun auch Deutschland sowie die andern Länder nicht mehr ent- ziehen können. Im Ganzen behielt das lange Beinkleid (die Pantalons) noch eine mäßige, anliegende, oft tricotartige Enge, und nur die Incroyables gefielen sich in weiten, faltigen Nan- kinghosen.
Das Bild des Incroyable ist mit dem großen, unförm- lichen runden Hut, mit dem wirren Tituskopf oder dem langen, schlichten, wie mit den Fingern durchkämmten, strähnigen Haar, mit dem dreifachen Halstuch, Rock, weitem Beinkleid und Stie- feln noch nicht fertig. Zu seiner Ergänzung gehören wesentlich, vom Backenbart nicht zu reden, große ovale Ringe, die im Ohr- läppchen hängen, und der kurze, keulenartige Knotenstock, der meist auf der Schulter oder unter dem Arm getragen wurde.
Man darf nicht glauben, daß Frankreich oder Paris allein in den Strudeln der Revolution diese Blüthen des Stutzer- thums erzeugte. Schon 1798 hatte sie Deutschland, in Nach- ahmung befangen, wenigstens in seinen Hauptstädten. Hören wir, was der Correspondent im Journal des Luxus (10. Jan. 1798) von Berlin schreibt: "Fast jeder Stand, jede Classe, z. B. das Militär (nämlich außer der Uniform), die Akademien, die junge Kaufmannswelt, der junge Adel der Höfe und Residenzen hat seine eigenen Uebertreibungen und Carricaturen im Costüm. England und Frankreich lieferten aber Deutschland immer die ersten Originale dazu, und waren stets die Klippen, an denen der Verstand und gute Geschmack unsrer jungen Welt so oft scheiterte. Frankreich stellte uns erst seine süßen Petitsmaitres und Elegants, hernach seine cynischen Sansculottes, und nun seine wildfreien Incroyables, sowie England seine Maccaronis, Fine gentlemen und Bloods auf, und unsre jungen Deutschen französirten und anglisirten sich nach Herzenslust und schraubten natürlich die Wirbel noch um etwas höher, um doch auch von dem Ihrigen etwas hinzuzuthun."
Der Correspondent liefert in der beigegebenen Zeichnung einige Musterbeispiele aus Berlin, denen an Haar und Hut,
III. Die Neuzeit.
ruhiger, jedoch unaufhaltſamer Entwicklung vorwärts, der ſich nun auch Deutſchland ſowie die andern Länder nicht mehr ent- ziehen können. Im Ganzen behielt das lange Beinkleid (die Pantalons) noch eine mäßige, anliegende, oft tricotartige Enge, und nur die Incroyables gefielen ſich in weiten, faltigen Nan- kinghoſen.
Das Bild des Incroyable iſt mit dem großen, unförm- lichen runden Hut, mit dem wirren Tituskopf oder dem langen, ſchlichten, wie mit den Fingern durchkämmten, ſträhnigen Haar, mit dem dreifachen Halstuch, Rock, weitem Beinkleid und Stie- feln noch nicht fertig. Zu ſeiner Ergänzung gehören weſentlich, vom Backenbart nicht zu reden, große ovale Ringe, die im Ohr- läppchen hängen, und der kurze, keulenartige Knotenſtock, der meiſt auf der Schulter oder unter dem Arm getragen wurde.
Man darf nicht glauben, daß Frankreich oder Paris allein in den Strudeln der Revolution dieſe Blüthen des Stutzer- thums erzeugte. Schon 1798 hatte ſie Deutſchland, in Nach- ahmung befangen, wenigſtens in ſeinen Hauptſtädten. Hören wir, was der Correſpondent im Journal des Luxus (10. Jan. 1798) von Berlin ſchreibt: „Faſt jeder Stand, jede Claſſe, z. B. das Militär (nämlich außer der Uniform), die Akademien, die junge Kaufmannswelt, der junge Adel der Höfe und Reſidenzen hat ſeine eigenen Uebertreibungen und Carricaturen im Coſtüm. England und Frankreich lieferten aber Deutſchland immer die erſten Originale dazu, und waren ſtets die Klippen, an denen der Verſtand und gute Geſchmack unſrer jungen Welt ſo oft ſcheiterte. Frankreich ſtellte uns erſt ſeine ſüßen Petitsmaitres und Elegants, hernach ſeine cyniſchen Sansculottes, und nun ſeine wildfreien Incroyables, ſowie England ſeine Maccaronis, Fine gentlemen und Bloods auf, und unſre jungen Deutſchen franzöſirten und angliſirten ſich nach Herzensluſt und ſchraubten natürlich die Wirbel noch um etwas höher, um doch auch von dem Ihrigen etwas hinzuzuthun.“
Der Correſpondent liefert in der beigegebenen Zeichnung einige Muſterbeiſpiele aus Berlin, denen an Haar und Hut,
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III. Die Neuzeit.
ruhiger, jedoch unaufhaltſamer Entwicklung vorwärts, der ſich
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ziehen können. Im Ganzen behielt das lange Beinkleid (die
Pantalons) noch eine mäßige, anliegende, oft tricotartige Enge,
und nur die Incroyables gefielen ſich in weiten, faltigen Nan-
kinghoſen.
Das Bild des Incroyable iſt mit dem großen, unförm-
lichen runden Hut, mit dem wirren Tituskopf oder dem langen,
ſchlichten, wie mit den Fingern durchkämmten, ſträhnigen Haar,
mit dem dreifachen Halstuch, Rock, weitem Beinkleid und Stie-
feln noch nicht fertig. Zu ſeiner Ergänzung gehören weſentlich,
vom Backenbart nicht zu reden, große ovale Ringe, die im Ohr-
läppchen hängen, und der kurze, keulenartige Knotenſtock, der
meiſt auf der Schulter oder unter dem Arm getragen wurde.
Man darf nicht glauben, daß Frankreich oder Paris allein
in den Strudeln der Revolution dieſe Blüthen des Stutzer-
thums erzeugte. Schon 1798 hatte ſie Deutſchland, in Nach-
ahmung befangen, wenigſtens in ſeinen Hauptſtädten. Hören
wir, was der Correſpondent im Journal des Luxus (10. Jan.
1798) von Berlin ſchreibt: „Faſt jeder Stand, jede Claſſe, z. B.
das Militär (nämlich außer der Uniform), die Akademien, die
junge Kaufmannswelt, der junge Adel der Höfe und Reſidenzen
hat ſeine eigenen Uebertreibungen und Carricaturen im Coſtüm.
England und Frankreich lieferten aber Deutſchland immer die
erſten Originale dazu, und waren ſtets die Klippen, an denen
der Verſtand und gute Geſchmack unſrer jungen Welt ſo oft
ſcheiterte. Frankreich ſtellte uns erſt ſeine ſüßen Petitsmaitres
und Elegants, hernach ſeine cyniſchen Sansculottes, und nun
ſeine wildfreien Incroyables, ſowie England ſeine Maccaronis,
Fine gentlemen und Bloods auf, und unſre jungen Deutſchen
franzöſirten und angliſirten ſich nach Herzensluſt und ſchraubten
natürlich die Wirbel noch um etwas höher, um doch auch von
dem Ihrigen etwas hinzuzuthun.“
Der Correſpondent liefert in der beigegebenen Zeichnung
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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/328>, abgerufen am 27.07.2024.
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