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Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858.

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und mit kleinen bunten Schlitzen verziert sein kann; zum festeren
Schluß laufen ein oder mehrere Bänder über den Fuß.

Die Bedeckung des Leibes, das eigentliche Kleid oder der
Rock, strebte zunächst dahin, sich aller Fesseln und Hindernisse
zu entledigen, welche die Enge oder die Uebertreibung hervorge-
rufen hatten, und zugleich einen gewissen Grad von Naturgemäß-
heit und freier Schönheit zu erreichen. Demzufolge verkleinert
sich unten die Schleppe und oben die Decolletirung, und die
Taille sinkt von ihrer Höhe hart unter den Brüsten zu der ihr
von Natur angewiesenen Stelle herab, ohne durch allzugroße
Länge wieder ins andre Extrem zu verfallen. Noch zu den Zei-
ten der Predigten Geilers spielen die "langen Schwänze der
Frauen, die sie auf dem Erdreiche hernachziehen" eine so bedeu-
tende Rolle, daß sie den bittersten Tadel dieses Sittenpredigers
ihren Trägerinnen zuziehen; zehn Jahre später zeigen sie sich in
bedeutend verkürzter Gestalt und nur noch in der Minderzahl
gegen die neue Mode, wonach das Kleid rundum in gleicher
Länge nur eben den Boden erreicht oder doch nicht weit auf den-
selben fällt. Diese Mode kam dann zu allgemeiner Geltung und
zwar so, daß sie auch im Auslande als eine vorzugsweise deutsche
bezeichnet wird. So heißt es z. B. von Anna von Cleve in dem
englischen Bericht über ihre erste Zusammenkunft mit Hein-
rich VIII. von England, sie habe ein reiches Kleid mit Gold ge-
tragen, rund ohne irgend eine Schleppe nach deutscher Mode.
Es wurde dann aber dieser kurze, schleppenlose Schnitt des Klei-
des, das freilich nie die Füße sichtbar werden lassen durfte, im
ganzen civilisirten Abendlande für das sechszehnte Jahrhundert
ziemlich allgemeine Tracht, so daß die Schleppe nur noch der
Etiquette des Hoflebens blieb. Auch die deutschen Kleiderord-
nungen dieses Jahrhunderts nehmen auf sie keine Rücksicht mehr.

Was die Decolletirung und die übrige Entblößung be-
trifft, die, wie wir gesehen haben, um das Jahr 1500 auf Brust
und Rücken bis gegen den Gürtel sich herabzog, so war die frei
bewegte Zeit nicht dazu angethan, sie sofort in's Gegentheil, in
nonnenhafte Verhüllung, hinüberzuführen, obwohl ehrwürdige

III. Die Neuzeit.
und mit kleinen bunten Schlitzen verziert ſein kann; zum feſteren
Schluß laufen ein oder mehrere Bänder über den Fuß.

Die Bedeckung des Leibes, das eigentliche Kleid oder der
Rock, ſtrebte zunächſt dahin, ſich aller Feſſeln und Hinderniſſe
zu entledigen, welche die Enge oder die Uebertreibung hervorge-
rufen hatten, und zugleich einen gewiſſen Grad von Naturgemäß-
heit und freier Schönheit zu erreichen. Demzufolge verkleinert
ſich unten die Schleppe und oben die Decolletirung, und die
Taille ſinkt von ihrer Höhe hart unter den Brüſten zu der ihr
von Natur angewieſenen Stelle herab, ohne durch allzugroße
Länge wieder ins andre Extrem zu verfallen. Noch zu den Zei-
ten der Predigten Geilers ſpielen die „langen Schwänze der
Frauen, die ſie auf dem Erdreiche hernachziehen“ eine ſo bedeu-
tende Rolle, daß ſie den bitterſten Tadel dieſes Sittenpredigers
ihren Trägerinnen zuziehen; zehn Jahre ſpäter zeigen ſie ſich in
bedeutend verkürzter Geſtalt und nur noch in der Minderzahl
gegen die neue Mode, wonach das Kleid rundum in gleicher
Länge nur eben den Boden erreicht oder doch nicht weit auf den-
ſelben fällt. Dieſe Mode kam dann zu allgemeiner Geltung und
zwar ſo, daß ſie auch im Auslande als eine vorzugsweiſe deutſche
bezeichnet wird. So heißt es z. B. von Anna von Cleve in dem
engliſchen Bericht über ihre erſte Zuſammenkunft mit Hein-
rich VIII. von England, ſie habe ein reiches Kleid mit Gold ge-
tragen, rund ohne irgend eine Schleppe nach deutſcher Mode.
Es wurde dann aber dieſer kurze, ſchleppenloſe Schnitt des Klei-
des, das freilich nie die Füße ſichtbar werden laſſen durfte, im
ganzen civiliſirten Abendlande für das ſechszehnte Jahrhundert
ziemlich allgemeine Tracht, ſo daß die Schleppe nur noch der
Etiquette des Hoflebens blieb. Auch die deutſchen Kleiderord-
nungen dieſes Jahrhunderts nehmen auf ſie keine Rückſicht mehr.

Was die Decolletirung und die übrige Entblößung be-
trifft, die, wie wir geſehen haben, um das Jahr 1500 auf Bruſt
und Rücken bis gegen den Gürtel ſich herabzog, ſo war die frei
bewegte Zeit nicht dazu angethan, ſie ſofort in’s Gegentheil, in
nonnenhafte Verhüllung, hinüberzuführen, obwohl ehrwürdige

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[70/0082] III. Die Neuzeit. und mit kleinen bunten Schlitzen verziert ſein kann; zum feſteren Schluß laufen ein oder mehrere Bänder über den Fuß. Die Bedeckung des Leibes, das eigentliche Kleid oder der Rock, ſtrebte zunächſt dahin, ſich aller Feſſeln und Hinderniſſe zu entledigen, welche die Enge oder die Uebertreibung hervorge- rufen hatten, und zugleich einen gewiſſen Grad von Naturgemäß- heit und freier Schönheit zu erreichen. Demzufolge verkleinert ſich unten die Schleppe und oben die Decolletirung, und die Taille ſinkt von ihrer Höhe hart unter den Brüſten zu der ihr von Natur angewieſenen Stelle herab, ohne durch allzugroße Länge wieder ins andre Extrem zu verfallen. Noch zu den Zei- ten der Predigten Geilers ſpielen die „langen Schwänze der Frauen, die ſie auf dem Erdreiche hernachziehen“ eine ſo bedeu- tende Rolle, daß ſie den bitterſten Tadel dieſes Sittenpredigers ihren Trägerinnen zuziehen; zehn Jahre ſpäter zeigen ſie ſich in bedeutend verkürzter Geſtalt und nur noch in der Minderzahl gegen die neue Mode, wonach das Kleid rundum in gleicher Länge nur eben den Boden erreicht oder doch nicht weit auf den- ſelben fällt. Dieſe Mode kam dann zu allgemeiner Geltung und zwar ſo, daß ſie auch im Auslande als eine vorzugsweiſe deutſche bezeichnet wird. So heißt es z. B. von Anna von Cleve in dem engliſchen Bericht über ihre erſte Zuſammenkunft mit Hein- rich VIII. von England, ſie habe ein reiches Kleid mit Gold ge- tragen, rund ohne irgend eine Schleppe nach deutſcher Mode. Es wurde dann aber dieſer kurze, ſchleppenloſe Schnitt des Klei- des, das freilich nie die Füße ſichtbar werden laſſen durfte, im ganzen civiliſirten Abendlande für das ſechszehnte Jahrhundert ziemlich allgemeine Tracht, ſo daß die Schleppe nur noch der Etiquette des Hoflebens blieb. Auch die deutſchen Kleiderord- nungen dieſes Jahrhunderts nehmen auf ſie keine Rückſicht mehr. Was die Decolletirung und die übrige Entblößung be- trifft, die, wie wir geſehen haben, um das Jahr 1500 auf Bruſt und Rücken bis gegen den Gürtel ſich herabzog, ſo war die frei bewegte Zeit nicht dazu angethan, ſie ſofort in’s Gegentheil, in nonnenhafte Verhüllung, hinüberzuführen, obwohl ehrwürdige

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Zitationshilfe: Falke, Jakob von: Die deutsche Trachten- und Modenwelt. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte. Bd. 2. Leipzig, 1858, S. 70. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/falke_trachten02_1858/82>, abgerufen am 24.11.2024.