Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

ist der in das Tempus finitum, in das gewisse selige Ist
verwandelte Optativ des menschlichen Herzens, die rücksichts-
lose Allmacht des Gefühls, das sich selbst erhörende Gebet,
das sich selbst vernehmende Gemüth, das Echo unserer
Schmerzenslaute. Aeußern muß sich der Schmerz; unwill-
kührlich greift der Künstler nach der Laute, um in ihren Tö-
nen seinen eignen Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt sei-
nen Schmerz, indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegen-
ständlicht; er erleichtert die Last, die auf seinem Herzen ruht,
indem er sie der Luft mittheilt, seinen Schmerz zu einem all-
gemeinen
Wesen macht. Aber die Natur erhört nicht die
Klagen des Menschen -- sie ist gefühllos gegen seine Leiden.
Der Mensch wendet sich daher weg von der Natur, weg von
den sichtbaren Gegenständen überhaupt -- er kehrt sich nach
Innen, um hier verborgen und geborgen vor den gefühllosen
Mächten, Gehör für seine Leiden zu finden. Hier spricht er
seine drückenden Geheimnisse aus, hier macht er seinem ge-
preßten Herzen Luft. Diese freie Luft des Herzens, die-
ses ausgesprochne Geheimniß, dieser entäußerte Seelen-
schmerz ist Gott. Gott ist eine Thräne der Liebe in tiefster
Verborgenheit, vergossen über das menschliche Elend. "Gott
ist ein unaussprechlicher Seufzer
, im Grund der Seelen
gelegen" -- dieser Ausspruch*) ist der merkwürdigste, tiefste,
wahrste Ausspruch der christlichen Mystik.

Das tiefste Wesen der Religion offenbart der einfachste
Act der Religion -- das Gebet -- ein Act, der unendlich
mehr oder wenigstens eben so viel sagt, als das Dogma der

*) Sebastian Frank von Wörd in Zinkgrafs Apophthegmata
deutscher Nation.

iſt der in das Tempus finitum, in das gewiſſe ſelige Iſt
verwandelte Optativ des menſchlichen Herzens, die rückſichts-
loſe Allmacht des Gefühls, das ſich ſelbſt erhörende Gebet,
das ſich ſelbſt vernehmende Gemüth, das Echo unſerer
Schmerzenslaute. Aeußern muß ſich der Schmerz; unwill-
kührlich greift der Künſtler nach der Laute, um in ihren Tö-
nen ſeinen eignen Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt ſei-
nen Schmerz, indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegen-
ſtändlicht; er erleichtert die Laſt, die auf ſeinem Herzen ruht,
indem er ſie der Luft mittheilt, ſeinen Schmerz zu einem all-
gemeinen
Weſen macht. Aber die Natur erhört nicht die
Klagen des Menſchen — ſie iſt gefühllos gegen ſeine Leiden.
Der Menſch wendet ſich daher weg von der Natur, weg von
den ſichtbaren Gegenſtänden überhaupt — er kehrt ſich nach
Innen, um hier verborgen und geborgen vor den gefühlloſen
Mächten, Gehör für ſeine Leiden zu finden. Hier ſpricht er
ſeine drückenden Geheimniſſe aus, hier macht er ſeinem ge-
preßten Herzen Luft. Dieſe freie Luft des Herzens, die-
ſes ausgeſprochne Geheimniß, dieſer entäußerte Seelen-
ſchmerz iſt Gott. Gott iſt eine Thräne der Liebe in tiefſter
Verborgenheit, vergoſſen über das menſchliche Elend. „Gott
iſt ein unausſprechlicher Seufzer
, im Grund der Seelen
gelegen“ — dieſer Ausſpruch*) iſt der merkwürdigſte, tiefſte,
wahrſte Ausſpruch der chriſtlichen Myſtik.

Das tiefſte Weſen der Religion offenbart der einfachſte
Act der Religion — das Gebet — ein Act, der unendlich
mehr oder wenigſtens eben ſo viel ſagt, als das Dogma der

*) Sebaſtian Frank von Wörd in Zinkgrafs Apophthegmata
deutſcher Nation.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0175" n="157"/>
i&#x017F;t der in das <hi rendition="#aq">Tempus finitum,</hi> in das gewi&#x017F;&#x017F;e &#x017F;elige I&#x017F;t<lb/>
verwandelte Optativ des men&#x017F;chlichen Herzens, die rück&#x017F;ichts-<lb/>
lo&#x017F;e Allmacht des Gefühls, das &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t erhörende Gebet,<lb/>
das <hi rendition="#g">&#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t vernehmende Gemüth</hi>, das Echo un&#x017F;erer<lb/>
Schmerzenslaute. Aeußern muß &#x017F;ich der Schmerz; unwill-<lb/>
kührlich greift der Kün&#x017F;tler nach der Laute, um in ihren Tö-<lb/>
nen &#x017F;einen eignen Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt &#x017F;ei-<lb/>
nen Schmerz, indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegen-<lb/>
&#x017F;tändlicht; er erleichtert die La&#x017F;t, die auf &#x017F;einem Herzen ruht,<lb/>
indem er &#x017F;ie der Luft mittheilt, &#x017F;einen Schmerz zu einem <hi rendition="#g">all-<lb/>
gemeinen</hi> We&#x017F;en macht. Aber die Natur erhört nicht die<lb/>
Klagen des Men&#x017F;chen &#x2014; &#x017F;ie i&#x017F;t gefühllos gegen &#x017F;eine Leiden.<lb/>
Der Men&#x017F;ch wendet &#x017F;ich daher weg von der Natur, weg von<lb/>
den &#x017F;ichtbaren Gegen&#x017F;tänden überhaupt &#x2014; er kehrt &#x017F;ich nach<lb/>
Innen, um hier verborgen und geborgen vor den gefühllo&#x017F;en<lb/>
Mächten, Gehör für &#x017F;eine Leiden zu finden. Hier &#x017F;pricht er<lb/>
&#x017F;eine drückenden Geheimni&#x017F;&#x017F;e aus, hier macht er &#x017F;einem ge-<lb/>
preßten Herzen Luft. <hi rendition="#g">Die&#x017F;e freie Luft des Herzens</hi>, die-<lb/>
&#x017F;es <hi rendition="#g">ausge&#x017F;prochne</hi> Geheimniß, die&#x017F;er entäußerte Seelen-<lb/>
&#x017F;chmerz i&#x017F;t <hi rendition="#g">Gott</hi>. Gott i&#x017F;t eine Thräne der Liebe in tief&#x017F;ter<lb/>
Verborgenheit, vergo&#x017F;&#x017F;en über das men&#x017F;chliche Elend. &#x201E;<hi rendition="#g">Gott<lb/>
i&#x017F;t ein unaus&#x017F;prechlicher Seufzer</hi>, im Grund der Seelen<lb/>
gelegen&#x201C; &#x2014; die&#x017F;er Aus&#x017F;pruch<note place="foot" n="*)"><hi rendition="#g">Seba&#x017F;tian Frank von Wörd</hi> in Zinkgrafs Apophthegmata<lb/>
deut&#x017F;cher Nation.</note> i&#x017F;t der merkwürdig&#x017F;te, tief&#x017F;te,<lb/>
wahr&#x017F;te Aus&#x017F;pruch der chri&#x017F;tlichen My&#x017F;tik.</p><lb/>
          <p>Das tief&#x017F;te We&#x017F;en der Religion offenbart der einfach&#x017F;te<lb/>
Act der Religion &#x2014; <hi rendition="#g">das Gebet</hi> &#x2014; ein Act, der unendlich<lb/>
mehr oder wenig&#x017F;tens eben &#x017F;o viel &#x017F;agt, als das Dogma der<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[157/0175] iſt der in das Tempus finitum, in das gewiſſe ſelige Iſt verwandelte Optativ des menſchlichen Herzens, die rückſichts- loſe Allmacht des Gefühls, das ſich ſelbſt erhörende Gebet, das ſich ſelbſt vernehmende Gemüth, das Echo unſerer Schmerzenslaute. Aeußern muß ſich der Schmerz; unwill- kührlich greift der Künſtler nach der Laute, um in ihren Tö- nen ſeinen eignen Schmerz auszuhauchen. Er befriedigt ſei- nen Schmerz, indem er ihn vernimmt, indem er ihn vergegen- ſtändlicht; er erleichtert die Laſt, die auf ſeinem Herzen ruht, indem er ſie der Luft mittheilt, ſeinen Schmerz zu einem all- gemeinen Weſen macht. Aber die Natur erhört nicht die Klagen des Menſchen — ſie iſt gefühllos gegen ſeine Leiden. Der Menſch wendet ſich daher weg von der Natur, weg von den ſichtbaren Gegenſtänden überhaupt — er kehrt ſich nach Innen, um hier verborgen und geborgen vor den gefühlloſen Mächten, Gehör für ſeine Leiden zu finden. Hier ſpricht er ſeine drückenden Geheimniſſe aus, hier macht er ſeinem ge- preßten Herzen Luft. Dieſe freie Luft des Herzens, die- ſes ausgeſprochne Geheimniß, dieſer entäußerte Seelen- ſchmerz iſt Gott. Gott iſt eine Thräne der Liebe in tiefſter Verborgenheit, vergoſſen über das menſchliche Elend. „Gott iſt ein unausſprechlicher Seufzer, im Grund der Seelen gelegen“ — dieſer Ausſpruch *) iſt der merkwürdigſte, tiefſte, wahrſte Ausſpruch der chriſtlichen Myſtik. Das tiefſte Weſen der Religion offenbart der einfachſte Act der Religion — das Gebet — ein Act, der unendlich mehr oder wenigſtens eben ſo viel ſagt, als das Dogma der *) Sebaſtian Frank von Wörd in Zinkgrafs Apophthegmata deutſcher Nation.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/175
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/175>, abgerufen am 04.12.2024.