Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.ausgehe, die Gränzen meiner Subjectivität überschreite, wo ich *) Dieser Glaube ist der Bibel so wesentlich, daß sie ohne ihn gar
nicht begriffen werden kann. Die Stelle 2. Petri 3, 8. spricht nicht, wie dieß aus dem ganzen Capitel hervorgeht, gegen einen nahen Unter- gang, denn wohl sind 1000 Jahre wie ein Tag vor dem Herrn, aber auch ein Tag wie 1000 Jahre, und die Welt kann daher schon morgen nicht ausgehe, die Gränzen meiner Subjectivität überſchreite, wo ich *) Dieſer Glaube iſt der Bibel ſo weſentlich, daß ſie ohne ihn gar
nicht begriffen werden kann. Die Stelle 2. Petri 3, 8. ſpricht nicht, wie dieß aus dem ganzen Capitel hervorgeht, gegen einen nahen Unter- gang, denn wohl ſind 1000 Jahre wie ein Tag vor dem Herrn, aber auch ein Tag wie 1000 Jahre, und die Welt kann daher ſchon morgen nicht <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0183" n="165"/> ausgehe, die Gränzen meiner Subjectivität überſchreite, wo ich<lb/> auch dem Andern außer mir, dem von mir Unterſchiedenen<lb/> Realität und Stimmrecht einräume, wo ich mich als ein ſub-<lb/> jectives, d. i. <hi rendition="#g">beſchränktes</hi> Weſen weiß und nun durch das<lb/> Andere außer mir meine Gränzen zu erweitern ſuche. Aber im<lb/> Glauben iſt das <hi rendition="#g">Princip des Zweifels</hi> ſelbſt verſchwunden,<lb/> denn dem Glauben gilt eben an und für ſich <hi rendition="#g">das Subjective<lb/> für das Objective, das Abſolute ſelbſt</hi>. Der Glaube iſt<lb/> eben nichts andres als der <hi rendition="#g">Glaube an die abſolute Rea-<lb/> lität der Subjectivität</hi>. Die rauhe Wirklichkeit exiſtirt gar<lb/> nicht für ihn, das Wirkliche iſt ihm das Unwirkliche; wie ſollte<lb/> alſo das <hi rendition="#aq">Audiatur et altera pars</hi> hier ſtatt finden können?<lb/> Der Glaube <hi rendition="#g">beſchränkt ſich nicht durch die Vorſtellung<lb/> einer Welt</hi>, eines <hi rendition="#g">Weltganzen</hi>, einer <hi rendition="#g">Nothwendigkeit</hi>.<lb/> Für den Glauben <hi rendition="#g">iſt nur Gott</hi>, d. h. die <hi rendition="#g">ſchrankenfreie<lb/> Subjectivität</hi>. Wo der Glaube im Menſchen <hi rendition="#g">aufgeht</hi>,<lb/> da <hi rendition="#g">geht die Welt unter</hi>, ja ſie iſt ſchon untergegangen. Der<lb/> Glaube an den <hi rendition="#g">wirklichen Untergang</hi> und zwar an einen<lb/><hi rendition="#g">demnächſt bevorſtehenden</hi>, dem <hi rendition="#g">Gemüth präſenten</hi><lb/> Untergang dieſer den <hi rendition="#g">chriſtlichen Wünſchen widerſpre-<lb/> chenden</hi> Welt iſt daher ein Phänomen von dem <hi rendition="#g">innerſten<lb/> Weſen</hi> des chriſtlichen Glaubens, ein Glaube, der ſich <hi rendition="#g">gar<lb/> nicht abtrennen läßt</hi> von dem übrigen Inhalt des chriſtli-<lb/> chen Glaubens, mit deſſen Aufgebung das wahre poſitive<lb/> Chriſtenthum aufgegeben, <hi rendition="#g">verläugnet</hi> wird<note xml:id="note-0183" next="#note-0184" place="foot" n="*)">Dieſer Glaube iſt der Bibel ſo weſentlich, daß ſie <hi rendition="#g">ohne ihn</hi> gar<lb/><hi rendition="#g">nicht begriffen werden kann</hi>. Die Stelle 2. Petri 3, 8. ſpricht nicht,<lb/> wie dieß aus dem ganzen Capitel hervorgeht, gegen einen nahen Unter-<lb/> gang, denn wohl ſind 1000 Jahre wie <hi rendition="#g">ein</hi> Tag vor dem Herrn, aber auch<lb/><hi rendition="#g">ein</hi> Tag wie 1000 Jahre, und die Welt kann daher ſchon morgen nicht</note>. Das Weſen<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [165/0183]
ausgehe, die Gränzen meiner Subjectivität überſchreite, wo ich
auch dem Andern außer mir, dem von mir Unterſchiedenen
Realität und Stimmrecht einräume, wo ich mich als ein ſub-
jectives, d. i. beſchränktes Weſen weiß und nun durch das
Andere außer mir meine Gränzen zu erweitern ſuche. Aber im
Glauben iſt das Princip des Zweifels ſelbſt verſchwunden,
denn dem Glauben gilt eben an und für ſich das Subjective
für das Objective, das Abſolute ſelbſt. Der Glaube iſt
eben nichts andres als der Glaube an die abſolute Rea-
lität der Subjectivität. Die rauhe Wirklichkeit exiſtirt gar
nicht für ihn, das Wirkliche iſt ihm das Unwirkliche; wie ſollte
alſo das Audiatur et altera pars hier ſtatt finden können?
Der Glaube beſchränkt ſich nicht durch die Vorſtellung
einer Welt, eines Weltganzen, einer Nothwendigkeit.
Für den Glauben iſt nur Gott, d. h. die ſchrankenfreie
Subjectivität. Wo der Glaube im Menſchen aufgeht,
da geht die Welt unter, ja ſie iſt ſchon untergegangen. Der
Glaube an den wirklichen Untergang und zwar an einen
demnächſt bevorſtehenden, dem Gemüth präſenten
Untergang dieſer den chriſtlichen Wünſchen widerſpre-
chenden Welt iſt daher ein Phänomen von dem innerſten
Weſen des chriſtlichen Glaubens, ein Glaube, der ſich gar
nicht abtrennen läßt von dem übrigen Inhalt des chriſtli-
chen Glaubens, mit deſſen Aufgebung das wahre poſitive
Chriſtenthum aufgegeben, verläugnet wird *). Das Weſen
*) Dieſer Glaube iſt der Bibel ſo weſentlich, daß ſie ohne ihn gar
nicht begriffen werden kann. Die Stelle 2. Petri 3, 8. ſpricht nicht,
wie dieß aus dem ganzen Capitel hervorgeht, gegen einen nahen Unter-
gang, denn wohl ſind 1000 Jahre wie ein Tag vor dem Herrn, aber auch
ein Tag wie 1000 Jahre, und die Welt kann daher ſchon morgen nicht
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