kann nicht von seinem Gemüthe abstrahiren, nicht darüber hinaus -- so real ist ihm die Einbildung. Die Phantasie oder Einbildungskraft, (die hier nicht unterschieden werden, ob- wohl an sich verschieden) ist ihm nicht so, wie uns Verstan- desmenschen, die wir sie als die subjective von der objectiven Anschauung unterscheiden, Gegenstand; sie ist unmittelbar mit ihm selbst, mit seinem Gemüthe identisch, und als iden- tisch mit seinem Wesen, seine wesentliche, gegenständliche, nothwendige Anschauung selbst. Für uns ist wohl die Phan- tasie eine willkührliche Thätigkeit, aber wo der Mensch das Princip der Bildung, der Weltanschauung nicht in sich aufge- nommen, wo er nur in seinem Gemüthe lebt und webt, da ist die Phantasie eine unmittelbare, unwillkührliche Thätig- keit.
Die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantasie gilt Vielen heutigen Tags freilich für oberflächlich. Aber man denke sich hinein in die Zeiten, wo noch lebendige, gegenwär- tige Wunder geglaubt wurden, wo die Realität der Dinge außer uns noch kein geheiligter Glaubensartikel war, wo die Menschen so abgezogen von der Weltanschauung lebten, daß sie tagtäglich dem Untergang der Welt entgegen sahen, wo sie nur lebten in der wonnetrunknen Aussicht und Hoffnung des Himmels, also in der Einbildung -- denn mag der Himmel sein, was er will, für sie wenigstens existirte er, so lange sie auf Erden waren, nur in der Einbildungskraft -- wo diese Einbildung keine Einbildung, sondern Wahrheit, ja die ewige, allein bestehende Wahrheit, nicht ein thatloses müßiges Trostmittel nur, sondern ein praktisches, die Handlun- gen bestimmendes Moralprincip war, welchem die Men- schen mit Freuden das wirkliche Leben, die wirkliche Welt mit
kann nicht von ſeinem Gemüthe abſtrahiren, nicht darüber hinaus — ſo real iſt ihm die Einbildung. Die Phantaſie oder Einbildungskraft, (die hier nicht unterſchieden werden, ob- wohl an ſich verſchieden) iſt ihm nicht ſo, wie uns Verſtan- desmenſchen, die wir ſie als die ſubjective von der objectiven Anſchauung unterſcheiden, Gegenſtand; ſie iſt unmittelbar mit ihm ſelbſt, mit ſeinem Gemüthe identiſch, und als iden- tiſch mit ſeinem Weſen, ſeine weſentliche, gegenſtändliche, nothwendige Anſchauung ſelbſt. Für uns iſt wohl die Phan- taſie eine willkührliche Thätigkeit, aber wo der Menſch das Princip der Bildung, der Weltanſchauung nicht in ſich aufge- nommen, wo er nur in ſeinem Gemüthe lebt und webt, da iſt die Phantaſie eine unmittelbare, unwillkührliche Thätig- keit.
Die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantaſie gilt Vielen heutigen Tags freilich für oberflächlich. Aber man denke ſich hinein in die Zeiten, wo noch lebendige, gegenwär- tige Wunder geglaubt wurden, wo die Realität der Dinge außer uns noch kein geheiligter Glaubensartikel war, wo die Menſchen ſo abgezogen von der Weltanſchauung lebten, daß ſie tagtäglich dem Untergang der Welt entgegen ſahen, wo ſie nur lebten in der wonnetrunknen Ausſicht und Hoffnung des Himmels, alſo in der Einbildung — denn mag der Himmel ſein, was er will, für ſie wenigſtens exiſtirte er, ſo lange ſie auf Erden waren, nur in der Einbildungskraft — wo dieſe Einbildung keine Einbildung, ſondern Wahrheit, ja die ewige, allein beſtehende Wahrheit, nicht ein thatloſes müßiges Troſtmittel nur, ſondern ein praktiſches, die Handlun- gen beſtimmendes Moralprincip war, welchem die Men- ſchen mit Freuden das wirkliche Leben, die wirkliche Welt mit
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0192"n="174"/>
kann nicht von ſeinem Gemüthe abſtrahiren, nicht darüber<lb/>
hinaus —ſo real iſt ihm die Einbildung. Die Phantaſie oder<lb/>
Einbildungskraft, (die hier nicht unterſchieden werden, ob-<lb/>
wohl an ſich verſchieden) iſt ihm nicht ſo, wie uns Verſtan-<lb/>
desmenſchen, die wir ſie als die ſubjective von der objectiven<lb/>
Anſchauung unterſcheiden, Gegenſtand; ſie iſt <hirendition="#g">unmittelbar</hi><lb/>
mit ihm ſelbſt, mit ſeinem Gemüthe <hirendition="#g">identiſch</hi>, und als iden-<lb/>
tiſch mit <hirendition="#g">ſeinem Weſen</hi>, ſeine <hirendition="#g">weſentliche</hi>, gegenſtändliche,<lb/>
nothwendige Anſchauung ſelbſt. Für uns iſt wohl die Phan-<lb/>
taſie eine <hirendition="#g">willkührliche</hi> Thätigkeit, aber wo der Menſch das<lb/>
Princip der Bildung, der Weltanſchauung nicht in ſich aufge-<lb/>
nommen, wo er nur in ſeinem Gemüthe lebt und webt, da iſt<lb/>
die Phantaſie eine unmittelbare, unwillkührliche Thätig-<lb/>
keit.</p><lb/><p>Die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantaſie<lb/>
gilt Vielen heutigen Tags freilich für oberflächlich. Aber man<lb/>
denke ſich hinein in die Zeiten, wo noch lebendige, gegenwär-<lb/>
tige Wunder geglaubt wurden, wo die Realität der Dinge<lb/>
außer uns noch kein geheiligter Glaubensartikel war, wo die<lb/>
Menſchen ſo abgezogen von der Weltanſchauung lebten, daß<lb/>ſie tagtäglich dem Untergang der Welt entgegen ſahen, wo ſie<lb/>
nur lebten in der wonnetrunknen Ausſicht und Hoffnung des<lb/>
Himmels, alſo in der Einbildung — denn mag der Himmel<lb/>ſein, was er will, für ſie wenigſtens exiſtirte er, ſo lange ſie<lb/>
auf Erden waren, nur in der Einbildungskraft — wo dieſe<lb/>
Einbildung <hirendition="#g">keine Einbildung</hi>, ſondern Wahrheit, ja die<lb/>
ewige, allein beſtehende Wahrheit, nicht ein thatloſes müßiges<lb/><hirendition="#g">Troſtmittel</hi> nur, ſondern ein <hirendition="#g">praktiſches</hi>, die <hirendition="#g">Handlun-<lb/>
gen beſtimmendes Moralprincip</hi> war, welchem die Men-<lb/>ſchen mit Freuden das wirkliche Leben, die wirkliche Welt mit<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[174/0192]
kann nicht von ſeinem Gemüthe abſtrahiren, nicht darüber
hinaus — ſo real iſt ihm die Einbildung. Die Phantaſie oder
Einbildungskraft, (die hier nicht unterſchieden werden, ob-
wohl an ſich verſchieden) iſt ihm nicht ſo, wie uns Verſtan-
desmenſchen, die wir ſie als die ſubjective von der objectiven
Anſchauung unterſcheiden, Gegenſtand; ſie iſt unmittelbar
mit ihm ſelbſt, mit ſeinem Gemüthe identiſch, und als iden-
tiſch mit ſeinem Weſen, ſeine weſentliche, gegenſtändliche,
nothwendige Anſchauung ſelbſt. Für uns iſt wohl die Phan-
taſie eine willkührliche Thätigkeit, aber wo der Menſch das
Princip der Bildung, der Weltanſchauung nicht in ſich aufge-
nommen, wo er nur in ſeinem Gemüthe lebt und webt, da iſt
die Phantaſie eine unmittelbare, unwillkührliche Thätig-
keit.
Die Erklärung der Wunder aus Gemüth und Phantaſie
gilt Vielen heutigen Tags freilich für oberflächlich. Aber man
denke ſich hinein in die Zeiten, wo noch lebendige, gegenwär-
tige Wunder geglaubt wurden, wo die Realität der Dinge
außer uns noch kein geheiligter Glaubensartikel war, wo die
Menſchen ſo abgezogen von der Weltanſchauung lebten, daß
ſie tagtäglich dem Untergang der Welt entgegen ſahen, wo ſie
nur lebten in der wonnetrunknen Ausſicht und Hoffnung des
Himmels, alſo in der Einbildung — denn mag der Himmel
ſein, was er will, für ſie wenigſtens exiſtirte er, ſo lange ſie
auf Erden waren, nur in der Einbildungskraft — wo dieſe
Einbildung keine Einbildung, ſondern Wahrheit, ja die
ewige, allein beſtehende Wahrheit, nicht ein thatloſes müßiges
Troſtmittel nur, ſondern ein praktiſches, die Handlun-
gen beſtimmendes Moralprincip war, welchem die Men-
ſchen mit Freuden das wirkliche Leben, die wirkliche Welt mit
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 174. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/192>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.