vom Wissen ableitet. Wo Bewußtsein, da ist Fähigkeit zur Wissenschaft. Die Wissenschaft ist das Bewußtsein der Gattungen. Im Leben verkehren wir mit Individuen, in der Wissenschaft mit Gattungen. Aber nur ein Wesen, dem seine eigene Gattung, seine Wesenheit Gegenstand ist, kann andere Dinge oder Wesen nach seiner wesentlichen Natur zum Gegenstande machen.
Das Thier hat daher nur ein einfaches, der Mensch ein zweifaches Leben: bei dem Thiere ist das innere Leben eins mit dem äußern -- der Mensch hat ein inneres und äußeres Leben. Das innere Leben des Menschen ist das Leben im Verhältniß zu seiner Gattung, seinem allgemeinen Wesen. Der Mensch denkt, d. h. er conversirt, er spricht mit sich selbst. Das Thier kann keine Gattungsfunction verrichten ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Mensch aber kann die Gattungsfunction des Denkens, des Sprechens -- denn Denken, Sprechen sind wahre Gattungsfunctionen -- ohne einen Andern verrichten. Der Mensch ist sich selbst zu- gleich Ich und Du; er kann sich selbst die Stelle des Andern vertreten, eben deßwegen, weil ihm seine Gattung, sein We- sen, nicht nur seine Individualität Gegenstand ist.
Die Religion im Allgemeinen, als identisch mit dem Wesen des Menschen, ist identisch mit dem Selbstbewußt- sein, mit dem Bewußtsein des Menschen von seinem Wesen. Aber die Religion ist, allgemein ausgedrückt, Bewußtsein des Unendlichen; sie ist also und kann nichts andres sein als das Bewußtsein des Menschen von seinem, und zwar nicht end- lichen, beschränkten, sondern unendlichen Wesen. Ein wirk- lich endliches Wesen hat keine, auch nicht die entfernteste Ahnung, geschweige Bewußtsein von einem unendlichen
vom Wiſſen ableitet. Wo Bewußtſein, da iſt Fähigkeit zur Wiſſenſchaft. Die Wiſſenſchaft iſt das Bewußtſein der Gattungen. Im Leben verkehren wir mit Individuen, in der Wiſſenſchaft mit Gattungen. Aber nur ein Weſen, dem ſeine eigene Gattung, ſeine Weſenheit Gegenſtand iſt, kann andere Dinge oder Weſen nach ſeiner weſentlichen Natur zum Gegenſtande machen.
Das Thier hat daher nur ein einfaches, der Menſch ein zweifaches Leben: bei dem Thiere iſt das innere Leben eins mit dem äußern — der Menſch hat ein inneres und äußeres Leben. Das innere Leben des Menſchen iſt das Leben im Verhältniß zu ſeiner Gattung, ſeinem allgemeinen Weſen. Der Menſch denkt, d. h. er converſirt, er ſpricht mit ſich ſelbſt. Das Thier kann keine Gattungsfunction verrichten ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Menſch aber kann die Gattungsfunction des Denkens, des Sprechens — denn Denken, Sprechen ſind wahre Gattungsfunctionen — ohne einen Andern verrichten. Der Menſch iſt ſich ſelbſt zu- gleich Ich und Du; er kann ſich ſelbſt die Stelle des Andern vertreten, eben deßwegen, weil ihm ſeine Gattung, ſein We- ſen, nicht nur ſeine Individualität Gegenſtand iſt.
Die Religion im Allgemeinen, als identiſch mit dem Weſen des Menſchen, iſt identiſch mit dem Selbſtbewußt- ſein, mit dem Bewußtſein des Menſchen von ſeinem Weſen. Aber die Religion iſt, allgemein ausgedrückt, Bewußtſein des Unendlichen; ſie iſt alſo und kann nichts andres ſein als das Bewußtſein des Menſchen von ſeinem, und zwar nicht end- lichen, beſchränkten, ſondern unendlichen Weſen. Ein wirk- lich endliches Weſen hat keine, auch nicht die entfernteſte Ahnung, geſchweige Bewußtſein von einem unendlichen
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vom Wiſſen ableitet. Wo Bewußtſein, da iſt Fähigkeit zur
Wiſſenſchaft. Die Wiſſenſchaft iſt das Bewußtſein der
Gattungen. Im Leben verkehren wir mit Individuen, in
der Wiſſenſchaft mit Gattungen. Aber nur ein Weſen, dem
ſeine eigene Gattung, ſeine Weſenheit Gegenſtand iſt, kann
andere Dinge oder Weſen nach ſeiner weſentlichen Natur zum
Gegenſtande machen.
Das Thier hat daher nur ein einfaches, der Menſch ein
zweifaches Leben: bei dem Thiere iſt das innere Leben eins
mit dem äußern — der Menſch hat ein inneres und äußeres
Leben. Das innere Leben des Menſchen iſt das Leben im
Verhältniß zu ſeiner Gattung, ſeinem allgemeinen Weſen.
Der Menſch denkt, d. h. er converſirt, er ſpricht mit ſich
ſelbſt. Das Thier kann keine Gattungsfunction verrichten
ohne ein anderes Individuum außer ihm; der Menſch aber
kann die Gattungsfunction des Denkens, des Sprechens —
denn Denken, Sprechen ſind wahre Gattungsfunctionen
— ohne einen Andern verrichten. Der Menſch iſt ſich ſelbſt zu-
gleich Ich und Du; er kann ſich ſelbſt die Stelle des Andern
vertreten, eben deßwegen, weil ihm ſeine Gattung, ſein We-
ſen, nicht nur ſeine Individualität Gegenſtand iſt.
Die Religion im Allgemeinen, als identiſch mit dem
Weſen des Menſchen, iſt identiſch mit dem Selbſtbewußt-
ſein, mit dem Bewußtſein des Menſchen von ſeinem Weſen.
Aber die Religion iſt, allgemein ausgedrückt, Bewußtſein des
Unendlichen; ſie iſt alſo und kann nichts andres ſein als das
Bewußtſein des Menſchen von ſeinem, und zwar nicht end-
lichen, beſchränkten, ſondern unendlichen Weſen. Ein wirk-
lich endliches Weſen hat keine, auch nicht die entfernteſte
Ahnung, geſchweige Bewußtſein von einem unendlichen
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 2. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/20>, abgerufen am 23.11.2024.
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