Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841.

Bild:
<< vorherige Seite

göttliche, absolute Mächte, denen er keinen Widerstand
entgegensetzen kann.

Wie könnte der gefühlvolle Mensch dem Gefühl, der Lie-
bende der Liebe, der Vernünftige der Vernunft widerstehen?
Wer hat nicht die zermalmende Macht der Töne erfahren?
Aber was ist die Macht der Töne als die Macht der Gefühle?
Die Musik ist die Sprache der Gefühle -- der Ton das laute
Gefühl, das Gefühl, das sich mittheilt. Wer hätte nicht die
Macht der Liebe erfahren oder wenigstens von ihr gehört?
Wer ist stärker? die Liebe oder der individuelle Mensch? Hat
der Mensch die Liebe, oder hat nicht vielmehr die Liebe den
Menschen? Wenn die Liebe den Menschen bewegt, selbst mit
Freuden für den Geliebten in den Tod zu gehen, ist diese den
Tod überwindende Kraft seine eigne individuelle Kraft oder
nicht vielmehr die Kraft der Liebe? Und wer, der je wahrhaft
gedacht, hätte nicht die Macht des Denkens, die freilich stille,
geräuschlose Macht des Denkens erfahren? Wenn Du in
tiefes Nachdenken versinkest, Dich und was um Dich verges-
send, beherrschest Du die Vernunft oder wirst Du nicht von
ihr beherrscht und verschlungen? Ist die wissenschaftliche Be-
geisterung nicht der schönste Triumph, den die Vernunft über
Dich feiert? Ist die Macht des Wissenstriebs nicht eine
schlechterdings unwiderstehliche, Alles überwin-
dende Macht
? Und wenn Du eine Leidenschaft unterdrückst,
eine Gewohnheit ablegst, kurz einen Sieg über Dich selbst er-
ringst, ist diese siegreiche Kraft Deine eigne persönliche Kraft,
für sich selbst gedacht, oder nicht vielmehr die Willensenergie,
die Macht der Sittlichkeit, welche sich gewaltsam Deiner be-
meistert und Dich mit Indignation gegen Dich selbst und
Deine individuellen Schwachheiten erfüllt?

göttliche, abſolute Mächte, denen er keinen Widerſtand
entgegenſetzen kann.

Wie könnte der gefühlvolle Menſch dem Gefühl, der Lie-
bende der Liebe, der Vernünftige der Vernunft widerſtehen?
Wer hat nicht die zermalmende Macht der Töne erfahren?
Aber was iſt die Macht der Töne als die Macht der Gefühle?
Die Muſik iſt die Sprache der Gefühle — der Ton das laute
Gefühl, das Gefühl, das ſich mittheilt. Wer hätte nicht die
Macht der Liebe erfahren oder wenigſtens von ihr gehört?
Wer iſt ſtärker? die Liebe oder der individuelle Menſch? Hat
der Menſch die Liebe, oder hat nicht vielmehr die Liebe den
Menſchen? Wenn die Liebe den Menſchen bewegt, ſelbſt mit
Freuden für den Geliebten in den Tod zu gehen, iſt dieſe den
Tod überwindende Kraft ſeine eigne individuelle Kraft oder
nicht vielmehr die Kraft der Liebe? Und wer, der je wahrhaft
gedacht, hätte nicht die Macht des Denkens, die freilich ſtille,
geräuſchloſe Macht des Denkens erfahren? Wenn Du in
tiefes Nachdenken verſinkeſt, Dich und was um Dich vergeſ-
ſend, beherrſcheſt Du die Vernunft oder wirſt Du nicht von
ihr beherrſcht und verſchlungen? Iſt die wiſſenſchaftliche Be-
geiſterung nicht der ſchönſte Triumph, den die Vernunft über
Dich feiert? Iſt die Macht des Wiſſenstriebs nicht eine
ſchlechterdings unwiderſtehliche, Alles überwin-
dende Macht
? Und wenn Du eine Leidenſchaft unterdrückſt,
eine Gewohnheit ablegſt, kurz einen Sieg über Dich ſelbſt er-
ringſt, iſt dieſe ſiegreiche Kraft Deine eigne perſönliche Kraft,
für ſich ſelbſt gedacht, oder nicht vielmehr die Willensenergie,
die Macht der Sittlichkeit, welche ſich gewaltſam Deiner be-
meiſtert und Dich mit Indignation gegen Dich ſelbſt und
Deine individuellen Schwachheiten erfüllt?

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><hi rendition="#g"><pb facs="#f0023" n="5"/>
göttliche, ab&#x017F;olute Mächte</hi>, denen er keinen Wider&#x017F;tand<lb/>
entgegen&#x017F;etzen kann.</p><lb/>
          <p>Wie könnte der gefühlvolle Men&#x017F;ch dem Gefühl, der Lie-<lb/>
bende der Liebe, der Vernünftige der Vernunft wider&#x017F;tehen?<lb/>
Wer hat nicht die zermalmende Macht der Töne erfahren?<lb/>
Aber was i&#x017F;t die Macht der Töne als die Macht der Gefühle?<lb/>
Die Mu&#x017F;ik i&#x017F;t die Sprache der Gefühle &#x2014; der Ton das laute<lb/>
Gefühl, das Gefühl, das &#x017F;ich mittheilt. Wer hätte nicht die<lb/>
Macht der Liebe erfahren oder wenig&#x017F;tens von ihr gehört?<lb/>
Wer i&#x017F;t &#x017F;tärker? die Liebe oder der individuelle Men&#x017F;ch? Hat<lb/>
der Men&#x017F;ch die Liebe, oder hat nicht vielmehr die Liebe den<lb/>
Men&#x017F;chen? Wenn die Liebe den Men&#x017F;chen bewegt, &#x017F;elb&#x017F;t mit<lb/>
Freuden für den Geliebten in den Tod zu gehen, i&#x017F;t die&#x017F;e den<lb/>
Tod überwindende Kraft &#x017F;eine eigne individuelle Kraft oder<lb/>
nicht vielmehr die Kraft der Liebe? Und wer, der je wahrhaft<lb/>
gedacht, hätte nicht die Macht des Denkens, die freilich &#x017F;tille,<lb/>
geräu&#x017F;chlo&#x017F;e Macht des Denkens erfahren? Wenn Du in<lb/>
tiefes Nachdenken ver&#x017F;inke&#x017F;t, Dich und was um Dich verge&#x017F;-<lb/>
&#x017F;end, beherr&#x017F;che&#x017F;t Du die Vernunft oder wir&#x017F;t Du nicht von<lb/>
ihr beherr&#x017F;cht und ver&#x017F;chlungen? I&#x017F;t die wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliche Be-<lb/>
gei&#x017F;terung nicht der &#x017F;chön&#x017F;te Triumph, den die Vernunft über<lb/>
Dich feiert? I&#x017F;t die Macht des Wi&#x017F;&#x017F;enstriebs nicht eine<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;chlechterdings unwider&#x017F;tehliche, Alles überwin-<lb/>
dende Macht</hi>? Und wenn Du eine Leiden&#x017F;chaft unterdrück&#x017F;t,<lb/>
eine Gewohnheit ableg&#x017F;t, kurz einen Sieg über Dich &#x017F;elb&#x017F;t er-<lb/>
ring&#x017F;t, i&#x017F;t die&#x017F;e &#x017F;iegreiche Kraft Deine eigne per&#x017F;önliche Kraft,<lb/>
für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t gedacht, oder nicht vielmehr die Willensenergie,<lb/>
die Macht der Sittlichkeit, welche &#x017F;ich gewalt&#x017F;am Deiner be-<lb/>
mei&#x017F;tert und Dich mit Indignation gegen Dich &#x017F;elb&#x017F;t und<lb/>
Deine individuellen Schwachheiten erfüllt?</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[5/0023] göttliche, abſolute Mächte, denen er keinen Widerſtand entgegenſetzen kann. Wie könnte der gefühlvolle Menſch dem Gefühl, der Lie- bende der Liebe, der Vernünftige der Vernunft widerſtehen? Wer hat nicht die zermalmende Macht der Töne erfahren? Aber was iſt die Macht der Töne als die Macht der Gefühle? Die Muſik iſt die Sprache der Gefühle — der Ton das laute Gefühl, das Gefühl, das ſich mittheilt. Wer hätte nicht die Macht der Liebe erfahren oder wenigſtens von ihr gehört? Wer iſt ſtärker? die Liebe oder der individuelle Menſch? Hat der Menſch die Liebe, oder hat nicht vielmehr die Liebe den Menſchen? Wenn die Liebe den Menſchen bewegt, ſelbſt mit Freuden für den Geliebten in den Tod zu gehen, iſt dieſe den Tod überwindende Kraft ſeine eigne individuelle Kraft oder nicht vielmehr die Kraft der Liebe? Und wer, der je wahrhaft gedacht, hätte nicht die Macht des Denkens, die freilich ſtille, geräuſchloſe Macht des Denkens erfahren? Wenn Du in tiefes Nachdenken verſinkeſt, Dich und was um Dich vergeſ- ſend, beherrſcheſt Du die Vernunft oder wirſt Du nicht von ihr beherrſcht und verſchlungen? Iſt die wiſſenſchaftliche Be- geiſterung nicht der ſchönſte Triumph, den die Vernunft über Dich feiert? Iſt die Macht des Wiſſenstriebs nicht eine ſchlechterdings unwiderſtehliche, Alles überwin- dende Macht? Und wenn Du eine Leidenſchaft unterdrückſt, eine Gewohnheit ablegſt, kurz einen Sieg über Dich ſelbſt er- ringſt, iſt dieſe ſiegreiche Kraft Deine eigne perſönliche Kraft, für ſich ſelbſt gedacht, oder nicht vielmehr die Willensenergie, die Macht der Sittlichkeit, welche ſich gewaltſam Deiner be- meiſtert und Dich mit Indignation gegen Dich ſelbſt und Deine individuellen Schwachheiten erfüllt?

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/23
Zitationshilfe: Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 5. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/23>, abgerufen am 24.11.2024.