Selbstbewußtsein des Menschen. Aus dem Gegenstande erkennst Du den Menschen; an ihm erscheint Dir sein We- sen: der Gegenstand ist sein offenbares Wesen, sein wah- res objectives Ich. Und dieß gilt keineswegs nur von den geistigen, sondern auch den sinnlichen Gegenständen. Auch die dem Menschen fernsten Gegenstände sind, weil und wie- fern sie ihm Gegenstände sind, Offenbarungen des menschli- chen Wesens. Auch der Mond, auch die Sonne, auch die Sterne rufen dem Menschen das Gnothi sauton zu. Daß er sie sieht und sie so sieht, wie er sie sieht, das ist ein Zeug- niß seines eignen Wesens. Das Thier wird nur ergriffen von dem das Leben unmittelbar afficirenden Lichtstrahl, der Mensch dagegen auch noch von dem kalten Strahl des entferntesten Sternes. Nur der Mensch hat reine, intellectuelle, interesse- lose Freuden und Affecte -- nur der Mensch feiert theoretische Augenfeste. Das Auge, das in den Sternenhimmel schaut, jenes nutz- und schadenlose Licht erblickt, welches nichts mit der Erde und ihren Bedürfnissen gemein hat, dieses Auge blickt in diesem Lichte in sein eignes Wesen, seinen eignen Ursprung. Das Auge ist himmlischer Natur. Darum erhebt sich der Mensch über die Erde nur mit dem Auge; darum beginnt die Theorie mit dem Blicke nach dem Himmel. Die ersten Philosophen waren Astronomen. Der Himmel erinnert den Menschen an seine Bestimmung, daran, daß er nicht blos zum Handeln, sondern auch zur Beschauung bestimmt ist.
Das absolute Wesen des Menschen ist sein eignes Wesen. Die Macht des Gegenstandes über ihn ist daher die Macht seines eignen Wesens. So ist die Macht des Gegenstands der Liebe die Macht der Liebe, die Macht des Gegenstands der Vernunft die Macht der Vernunft selbst.
Selbſtbewußtſein des Menſchen. Aus dem Gegenſtande erkennſt Du den Menſchen; an ihm erſcheint Dir ſein We- ſen: der Gegenſtand iſt ſein offenbares Weſen, ſein wah- res objectives Ich. Und dieß gilt keineswegs nur von den geiſtigen, ſondern auch den ſinnlichen Gegenſtänden. Auch die dem Menſchen fernſten Gegenſtände ſind, weil und wie- fern ſie ihm Gegenſtände ſind, Offenbarungen des menſchli- chen Weſens. Auch der Mond, auch die Sonne, auch die Sterne rufen dem Menſchen das Γνῶϑι σαυτὸν zu. Daß er ſie ſieht und ſie ſo ſieht, wie er ſie ſieht, das iſt ein Zeug- niß ſeines eignen Weſens. Das Thier wird nur ergriffen von dem das Leben unmittelbar afficirenden Lichtſtrahl, der Menſch dagegen auch noch von dem kalten Strahl des entfernteſten Sternes. Nur der Menſch hat reine, intellectuelle, intereſſe- loſe Freuden und Affecte — nur der Menſch feiert theoretiſche Augenfeſte. Das Auge, das in den Sternenhimmel ſchaut, jenes nutz- und ſchadenloſe Licht erblickt, welches nichts mit der Erde und ihren Bedürfniſſen gemein hat, dieſes Auge blickt in dieſem Lichte in ſein eignes Weſen, ſeinen eignen Urſprung. Das Auge iſt himmliſcher Natur. Darum erhebt ſich der Menſch über die Erde nur mit dem Auge; darum beginnt die Theorie mit dem Blicke nach dem Himmel. Die erſten Philoſophen waren Aſtronomen. Der Himmel erinnert den Menſchen an ſeine Beſtimmung, daran, daß er nicht blos zum Handeln, ſondern auch zur Beſchauung beſtimmt iſt.
Das abſolute Weſen des Menſchen iſt ſein eignes Weſen. Die Macht des Gegenſtandes über ihn iſt daher die Macht ſeines eignen Weſens. So iſt die Macht des Gegenſtands der Liebe die Macht der Liebe, die Macht des Gegenſtands der Vernunft die Macht der Vernunft ſelbſt.
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Selbſtbewußtſein des Menſchen. Aus dem Gegenſtande
erkennſt Du den Menſchen; an ihm erſcheint Dir ſein We-
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geiſtigen, ſondern auch den ſinnlichen Gegenſtänden. Auch
die dem Menſchen fernſten Gegenſtände ſind, weil und wie-
fern ſie ihm Gegenſtände ſind, Offenbarungen des menſchli-
chen Weſens. Auch der Mond, auch die Sonne, auch die
Sterne rufen dem Menſchen das Γνῶϑι σαυτὸν zu. Daß
er ſie ſieht und ſie ſo ſieht, wie er ſie ſieht, das iſt ein Zeug-
niß ſeines eignen Weſens. Das Thier wird nur ergriffen von
dem das Leben unmittelbar afficirenden Lichtſtrahl, der Menſch
dagegen auch noch von dem kalten Strahl des entfernteſten
Sternes. Nur der Menſch hat reine, intellectuelle, intereſſe-
loſe Freuden und Affecte — nur der Menſch feiert theoretiſche
Augenfeſte. Das Auge, das in den Sternenhimmel ſchaut,
jenes nutz- und ſchadenloſe Licht erblickt, welches nichts mit
der Erde und ihren Bedürfniſſen gemein hat, dieſes Auge blickt
in dieſem Lichte in ſein eignes Weſen, ſeinen eignen Urſprung.
Das Auge iſt himmliſcher Natur. Darum erhebt ſich der
Menſch über die Erde nur mit dem Auge; darum beginnt die
Theorie mit dem Blicke nach dem Himmel. Die erſten
Philoſophen waren Aſtronomen. Der Himmel erinnert den
Menſchen an ſeine Beſtimmung, daran, daß er nicht blos
zum Handeln, ſondern auch zur Beſchauung beſtimmt iſt.
Das abſolute Weſen des Menſchen iſt ſein eignes
Weſen. Die Macht des Gegenſtandes über ihn iſt daher
die Macht ſeines eignen Weſens. So iſt die Macht des
Gegenſtands der Liebe die Macht der Liebe, die Macht des
Gegenſtands der Vernunft die Macht der Vernunft ſelbſt.
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Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/25>, abgerufen am 24.11.2024.
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