kannte er seine Braut, längst sehnte er sich nach ihr; aber äußere Verhältnisse, die gefühllose Wirklichkeit stand seiner Verbindung mit ihr entgegen. Auf der Hochzeit wird seine Geliebte nicht ein anderes Wesen; wie könnte er sonst so heiß nach ihr sich sehnen? Sie wird nur die Seinige, sie wird jetzt nur aus einem Gegenstand der Sehnsucht ein Gegenstand des wirklichen Besitzes. Das Jenseits ist hienieden allerdings nur ein Bild, aber nicht ein Bild eines fernen, unbekannten Dings, sondern ein Porträt von dem Wesen, welches der Mensch vor allen andern bevorzugt, liebt. Was der Mensch liebt, das ist seine Seele. Die Asche geliebter Todten schloß der Heide in Urnen ein; bei den Christen ist das himmlische Jenseits das Mausoleum, in das er seine Seele verschließt.
Zur Erkenntniß eines Glaubens, überhaupt der Religion, ist es nothwendig, selbst die untersten, rohsten Stufen der Re- ligion zu beachten. Man muß die Religion nicht nur in einer aufsteigenden Linie betrachten, sondern in der ganzen Breite ihrer Existenz überschauen. Man muß die verschie- denen Religionen auch bei der absoluten Religion gegenwär- tig haben, nicht hinter ihr, in der Vergangenheit zurücklassen, um eben sowohl die absolute als die andern Religionen rich- tig würdigen und begreifen zu können. Die schrecklichsten Ver- irrungen, die wildesten Ausschweifungen des religiösen Be- wußtseins lassen oft die tiefsten Blicke auch in die Geheimnisse der absoluten Religion werfen. Die scheinbar rohsten Vor- stellungen sind oft nur die kindlichsten, unschuldigsten, wahr- sten Vorstellungen. Dieß gilt auch von den Vorstellungen des Jenseits. Der "Wilde," dessen Bewußtsein nicht über die Gränzen seines Landes hinaus geht, der ganz mit ihm zusam- mengewachsen ist, nimmt auch sein Land in das Jenseits auf
kannte er ſeine Braut, längſt ſehnte er ſich nach ihr; aber äußere Verhältniſſe, die gefühlloſe Wirklichkeit ſtand ſeiner Verbindung mit ihr entgegen. Auf der Hochzeit wird ſeine Geliebte nicht ein anderes Weſen; wie könnte er ſonſt ſo heiß nach ihr ſich ſehnen? Sie wird nur die Seinige, ſie wird jetzt nur aus einem Gegenſtand der Sehnſucht ein Gegenſtand des wirklichen Beſitzes. Das Jenſeits iſt hienieden allerdings nur ein Bild, aber nicht ein Bild eines fernen, unbekannten Dings, ſondern ein Porträt von dem Weſen, welches der Menſch vor allen andern bevorzugt, liebt. Was der Menſch liebt, das iſt ſeine Seele. Die Aſche geliebter Todten ſchloß der Heide in Urnen ein; bei den Chriſten iſt das himmliſche Jenſeits das Mauſoleum, in das er ſeine Seele verſchließt.
Zur Erkenntniß eines Glaubens, überhaupt der Religion, iſt es nothwendig, ſelbſt die unterſten, rohſten Stufen der Re- ligion zu beachten. Man muß die Religion nicht nur in einer aufſteigenden Linie betrachten, ſondern in der ganzen Breite ihrer Exiſtenz überſchauen. Man muß die verſchie- denen Religionen auch bei der abſoluten Religion gegenwär- tig haben, nicht hinter ihr, in der Vergangenheit zurücklaſſen, um eben ſowohl die abſolute als die andern Religionen rich- tig würdigen und begreifen zu können. Die ſchrecklichſten Ver- irrungen, die wildeſten Ausſchweifungen des religiöſen Be- wußtſeins laſſen oft die tiefſten Blicke auch in die Geheimniſſe der abſoluten Religion werfen. Die ſcheinbar rohſten Vor- ſtellungen ſind oft nur die kindlichſten, unſchuldigſten, wahr- ſten Vorſtellungen. Dieß gilt auch von den Vorſtellungen des Jenſeits. Der „Wilde,“ deſſen Bewußtſein nicht über die Gränzen ſeines Landes hinaus geht, der ganz mit ihm zuſam- mengewachſen iſt, nimmt auch ſein Land in das Jenſeits auf
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0256"n="238"/>
kannte er ſeine Braut, längſt ſehnte er ſich nach ihr; aber<lb/>
äußere Verhältniſſe, die gefühlloſe Wirklichkeit ſtand ſeiner<lb/>
Verbindung mit ihr entgegen. Auf der Hochzeit wird ſeine<lb/>
Geliebte nicht ein anderes Weſen; wie könnte er ſonſt ſo heiß<lb/>
nach ihr ſich ſehnen? Sie wird nur die Seinige, ſie wird jetzt<lb/>
nur aus einem Gegenſtand der Sehnſucht ein Gegenſtand des<lb/>
wirklichen Beſitzes. Das Jenſeits iſt hienieden allerdings nur<lb/>
ein Bild, aber nicht ein Bild eines fernen, unbekannten Dings,<lb/>ſondern ein Porträt von dem Weſen, welches der Menſch vor<lb/>
allen andern bevorzugt, liebt. Was der Menſch liebt, das iſt<lb/>ſeine Seele. Die Aſche geliebter Todten ſchloß der Heide in<lb/>
Urnen ein; bei den Chriſten iſt das himmliſche Jenſeits das<lb/>
Mauſoleum, in das er ſeine Seele verſchließt.</p><lb/><p>Zur Erkenntniß eines Glaubens, überhaupt der Religion,<lb/>
iſt es nothwendig, ſelbſt die unterſten, rohſten Stufen der Re-<lb/>
ligion zu beachten. Man muß die Religion nicht nur in einer<lb/><hirendition="#g">aufſteigenden Linie</hi> betrachten, ſondern in der <hirendition="#g">ganzen<lb/>
Breite ihrer Exiſtenz</hi> überſchauen. Man muß die verſchie-<lb/>
denen Religionen auch bei der abſoluten Religion <hirendition="#g">gegenwär-<lb/>
tig</hi> haben, nicht hinter ihr, in der Vergangenheit zurücklaſſen,<lb/>
um eben ſowohl die abſolute als die andern Religionen rich-<lb/>
tig würdigen und begreifen zu können. Die ſchrecklichſten Ver-<lb/>
irrungen, die wildeſten Ausſchweifungen des religiöſen Be-<lb/>
wußtſeins laſſen oft die tiefſten Blicke auch in die Geheimniſſe<lb/>
der abſoluten Religion werfen. Die ſcheinbar rohſten Vor-<lb/>ſtellungen ſind oft nur die kindlichſten, unſchuldigſten, wahr-<lb/>ſten Vorſtellungen. Dieß gilt auch von den Vorſtellungen<lb/>
des Jenſeits. Der „Wilde,“ deſſen Bewußtſein nicht über die<lb/>
Gränzen ſeines Landes hinaus geht, der ganz mit ihm zuſam-<lb/>
mengewachſen iſt, nimmt auch ſein Land in das Jenſeits auf<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[238/0256]
kannte er ſeine Braut, längſt ſehnte er ſich nach ihr; aber
äußere Verhältniſſe, die gefühlloſe Wirklichkeit ſtand ſeiner
Verbindung mit ihr entgegen. Auf der Hochzeit wird ſeine
Geliebte nicht ein anderes Weſen; wie könnte er ſonſt ſo heiß
nach ihr ſich ſehnen? Sie wird nur die Seinige, ſie wird jetzt
nur aus einem Gegenſtand der Sehnſucht ein Gegenſtand des
wirklichen Beſitzes. Das Jenſeits iſt hienieden allerdings nur
ein Bild, aber nicht ein Bild eines fernen, unbekannten Dings,
ſondern ein Porträt von dem Weſen, welches der Menſch vor
allen andern bevorzugt, liebt. Was der Menſch liebt, das iſt
ſeine Seele. Die Aſche geliebter Todten ſchloß der Heide in
Urnen ein; bei den Chriſten iſt das himmliſche Jenſeits das
Mauſoleum, in das er ſeine Seele verſchließt.
Zur Erkenntniß eines Glaubens, überhaupt der Religion,
iſt es nothwendig, ſelbſt die unterſten, rohſten Stufen der Re-
ligion zu beachten. Man muß die Religion nicht nur in einer
aufſteigenden Linie betrachten, ſondern in der ganzen
Breite ihrer Exiſtenz überſchauen. Man muß die verſchie-
denen Religionen auch bei der abſoluten Religion gegenwär-
tig haben, nicht hinter ihr, in der Vergangenheit zurücklaſſen,
um eben ſowohl die abſolute als die andern Religionen rich-
tig würdigen und begreifen zu können. Die ſchrecklichſten Ver-
irrungen, die wildeſten Ausſchweifungen des religiöſen Be-
wußtſeins laſſen oft die tiefſten Blicke auch in die Geheimniſſe
der abſoluten Religion werfen. Die ſcheinbar rohſten Vor-
ſtellungen ſind oft nur die kindlichſten, unſchuldigſten, wahr-
ſten Vorſtellungen. Dieß gilt auch von den Vorſtellungen
des Jenſeits. Der „Wilde,“ deſſen Bewußtſein nicht über die
Gränzen ſeines Landes hinaus geht, der ganz mit ihm zuſam-
mengewachſen iſt, nimmt auch ſein Land in das Jenſeits auf
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Feuerbach, Ludwig: Das Wesen des Christentums. Leipzig, 1841, S. 238. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/feuerbach_christentum_1841/256>, abgerufen am 05.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.